Donnerstag, 12. März 2020

Das Jahr in der Box


Allgemeines:

Titel: Das Jahr in der Box
Autor: Michael Sieben
Genre: Jugendroman
Verlag: Carlsen (5. März 2020)
ASIN: B081RRDDM2
ISBN-10: 355158396X
ISBN-13: 978-3551583963
Seitenzahl: 256 Seiten
Preis: 9,99€ (E-Book)
16€ (gebundenes Buch)



Inhalt:

Der Umzug muss sein, sagt Pauls Mutter. Aber Paul will nicht. Nicht packen. Nicht raus aus Opas alter Villa. Und vor allem nicht in die Box schauen, diese Schatulle voller Erinnerungen. Denn was er dort versteckt hat – die Superhelden-Story, die blöden Kondome, das Messer und mehr –, bringt nur das letzte Jahr zurück. Das harte Jahr, in dem so viel passiert ist. Ken, Mehmet, Mara. Die durchgeknallten Aktionen, das Mobbing und … das völlig Unfassbare. Aber Wegsehen hilft nicht. Paul muss sich der Erinnerung stellen, Stück für Stück.



Bewertung:

Als ich begonnen habe, meine Rezension zu schreiben, war ich total geschockt, dass noch nirgends über dieses Buch geredet wird, noch nicht mal auf Instagram. Keine einzige Rezension auf Amazon, keine Kurzmeinung auf Lovelybooks, nicht mal eingetragen auf Goodreads (dank mir jetzt schon, gern geschehen, Carlsen Verlag!) und das obwohl der Roman schon am 5. März erschienen und überall zu kaufen ist. Dass ich mich mittlerweile fühle, als sei ich der einzige Mensch, der diese Geschichte schon gelesen hat macht mich sehr traurig, denn "Das Jahr in der Box" ist ein beeindruckender Jugendroman über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

"Ich glaube, heute ist der erste Tag seit seinem Tod, an dem ich nicht nur traurig bin, wenn ich an ihn denke. Heute ist da ein heller Fleck in diesem dunklen Trauermeer, eine Insel der schönen Erinnerungen und der Dankbarkeit, dass ich ihn kennen durfte. Eine winzige Insel in einem unendlich großen Meer, aber immerhin: eine Insel."

Das Cover ist wirklich toll und einfallsreich gestaltet. Unter dem hellen Umschlag ist das relativ dünne Büchlein dunkelblau und auch innerhalb der Buchdeckel ist die Gestaltung eher schlicht und unauffällig. Vorn auf dem Umschlag zusehen sind neben den überdimensionalen, ausfüllenden Buchstaben des Titels einzelne Gegenstände aus Pauls Box, die zusammengenommen eine Geschichte von einem ereignisreichen, prägenden Jahr erzählen, auf das wir nun zusammen mit dem Protagonisten Paul zurückblicken. Deshalb hätten Autor und Verlag auch keinen passenderen Titel für diese Geschichte finden können.

Erster Satz: "Die Box ist ungefähr so groß wie ein Schuhkarton"

Was ein kaputtes IPhone, eine Sonnenbrille, ein Kondom, eine Dose Mentos, ein rotes Armband, ein Stapel Kinokarten, eine Pizza-Speise-Karte, ein Bierdeckel mit einer Strichliste, ein Programmflyer der Theater-AG, eine Superhelden-Kurzgeschichte und ein Springmesser gemeinsam haben, erfahren wir erst nach und nach. Jedem Gegenstand in der Box wird ein Kapitel gewidmet, indem Paul sich an die Szenen erinnert, die er mit dem Gegenstand verbindet und in dem die ganzen verdrängten Gefühle und Erinnerungen wieder hochkommen. Auf diese Weise ist es dem Autor erlaubt, gezielte Zeitsprünge zu wichtigen Ereignissen zu unternehmen und uns Schritt für Schritt zu erzählen, was im letzten Jahr in Pauls Leben passiert ist. Wir erleben große Entwicklungen, zum Bespiel wie drei Außenseiter (oder auch MoFs genannt) langsam Freunde werden, wie sie sich zusammen den fiesen Attacken und Anfeindungen der sogenannten "Wicker Crew" um Kotzbrocken Wieland und seinen Schlägerfreund Glotz stellen müssen, wie sich Paul zum ersten Mal verliebt. Wir lesen aber auch von ganz normalen Momenten aus dem Leben eines Teenagers wie Computer-Matches unter Freunden, Schulpartys, Mathe-Unterricht, Hausarrest und nächtlichen Abenteuern. Dabei nähern wir uns auf der zeitlichen Ebene immer weiter dem Tag X, an dem einer von ihnen tragisch zu Tode kommen wird. Dass es zu einem solchen Ende kommen wird, wissen wir schon von Beginn an aus den Kapiteln der Jetzt-Ebene, die mit "Heute" betitelt wurden. Auch wenn durch die zweigeteilte Erzählweise viel vorweg genommen wurde, bleibt offen einiges offen. Was ist vor einem Jahr tatsächlich passiert, dass die Freunde nun entzweit, Paul in seiner Trauer gefangen und seine Mutter am Wegziehen ist? Und so stellen wir uns zusammen mit Paul den harten aber auch wichtigen Erinnerungen und angestauten Gefühlen, mit denen er sich am Tag des Umzugs endlich befassen muss und starten somit den Weg der Bewältigung.

"Es geht mir um ein anderes Leben. Ein Leben, in dem nicht alles vorbestimmt und langweilig ist, sondern in dem was passiert, in dem du die Möglichkeit hast, dich zu ändern und neu zu erfinden. Und das funktioniert in einem Kaff wie Wicker halt nicht."
"Und was für ein Leben stellst du dir vor?"
Ken schnappt sich den nächsten Schnaps. "Wenn ich das wüsste, wäre ich vielleicht schon weg."

Durch die Andeutungen und Vorgriffe, die Michael Sieben gekonnt einstreut, wird gerade so viel Information preisgegeben, um den Leser neugierig zu machen. Dieses geschickte Spielen mit der Zeit ist neben der sich im Verlauf der Geschichte immer mehr herausbildenden dunklen Vorahnung, die einen beschleicht der Hauptgrund, warum die Geschichte immer spannend bleibt. Zu einem späteren Zeitpunkt beginnt sich auch die Handlung auf der Jetzt-Ebene selbstständig zu entwickeln und für Dynamik zu sorgen. Anstatt sich nur im stillen Kämmerchen zu erinnern, treffen wir auch die anderen Protagonisten wieder und sehen, wie sie sich durch die Geschehnisse verändert haben. Ein weiterer Punkt, der diese Geschichte so reich und spannend macht, ist dass in diesem dünnen Büchlein so viel an Inhalt enthalten ist. Hier geht es um Freundschaft, Mobbing, Nerdkultur, Kleinstadtleben, Sexismus, Armut, alltägliche Herausforderungen und in erster Linie um die überraschend echten Gedanken und Gefühle eines Teenagers, der vielleicht ein bisschen mehr mitmachen musste, als der Durchschnitt, sonst aber jeder von uns sein könnte. Ständig dachte ich bei einer Szene, bei einem Gefühl "ja genau" und war von der leisen Weisheit beeindruckt, die sich hierin versteckt ohne sich jeweils altklug zu zeigen.

"Ich hätte das auch nicht gedacht, aber du kannst gleichzeitig glücklich und traurig sein. Das funktioniert. Das heißt nicht, dass es sich ausgleicht und es mir irgendwie mittel geht. Nein, ich bin zur selben Zeit gut und scheiße drauf."


Allgemein hat mir der Schreibstil des Autors sehr gut gefallen, da man hier die angestaute jugendliche Energie der Protagonisten wunderbar nachfühlen kann. Michael Sieben schreibt erfrischend, humorvoll, bildreich - schlicht aber träumerisch schildert er Situationen greifbar real und versteckt auch immer wieder ein wenig Ironie zwischen den traurigen Momenten. Trotz der ernsten Thematik schafft es der Autor ab und zu durch trockenen Humor, wunderschöne philosophische Sätzen und eine ruhige, angedeutete Liebesgeschichte, die sich aber hier eher am Rand abspielt, aufzulockern. Etwas gewöhnungsbedürftig ist nur die fehlende wörtliche Rede in den Gegenwart-Szenen, die durch Halbsätze und Spiegelstriche ersetzt wurden. Ich weiß nicht was das immer ist mit hippen Jugendromanen und wörtlicher Rede (siehe "tschick" oder "Schöner als überall")… Ansonsten trifft der Autor genau den Ton der Jugendlichen und man nimmt den Protagonisten man ihre Jugendsprache, ihre Gefühle und ihre Denkweise ab, was absolut nicht selbstverständlich ist und bei vielen anderen Autoren schon daneben gegangen ist (zum Beispiel bei einem der zuvor genannten Bücher, ich denke ihr findet schnell raus welches ich meine ^^). "Das Jahr in der Box" ist ungezwungen erzählt aber nicht flapsig, teilweise ungewöhnlich aber nicht unrealistisch, auf nette Weise schräg aber nicht konfus und allgemein so voller witziger, glücklicher aber auch trauriger, tragischer Momente, dass man es einfach lieben muss.

"Wir sprechen uns, Paul Stelter", ruft sie über ihre Schulter. Den Rest verstehe ich nicht mehr, sie ist schon zu weit weg, schon an den Schrebergärten vorbei. Sie bleibt die ganze Abfahrt stehen, obwohl die Straße feucht und rutschig ist. Ich sehe ihr nach, bis ich nur noch ihr Rücklicht als roten Punkt erkenne, der immer kleiner wird und schließlich ganz mit den Lichtern der Innenstadt verschmilzt."

Das Kernstück der Geschichte ist hier aber -wie so oft- die Vielfalt an skurriler aber liebenswerter Protagonisten. Natürlich ist da der Protagonist Paul, der das gesamte U-Bahn-Netz von Berlin auswendig weiß, Superhelden-Geschichten schreibt, in denen er die Gedanken anderer lesen und kontrollieren kann, in seiner neuen Klasse aber aufgrund eines misslungenen Nasen-Spruchs auf der Abschussliste steht und jeden Tag Grausamkeiten ertragen muss, die weit über peinliche Spitznamen und Hänseleien hinausgehen. Zu seiner beziehungsunfähigen Oberarzt-Mutter Bille hat er eigentlich ein gutes Verhältnis, er will sie nur nicht noch mehr belasten und behält deshalb vieles für sich. Auch wenn sie dienstlich viel weg ist, finde ich es aber etwas unrealistisch, dass sie nicht mitbekommen hat, dass ihr Sohn gemobbt wurde. Als er langsam mehr Kontakt zu dem übergewichtigen Mehmet knüpft, der ihn als einziges wie ein Mensch behandelt und auch der kleine, schmächtige Ken mit der großen Klappe für ihn einsteht, beginnt sich seine Lage zu verbessern. Wie aus den drei komplett unterschiedlichen Außenseitern Freunde werden, ist wirklich schön mitanzusehen, an dieser Stelle hätte sich der Autor aber meiner Meinung nach gerne noch ein paar Seiten Zeit lassen können. Mit Wieland und Glotz und deren Clique haben die drei einen harten Gegner. Gut dass ihnen auch Kens Cousine Mara zur Seite steht, die nachts als "Wicker City Queen" feministische Botschaften auf Hauswänden hinterlässt. Auch sie bleibt leider eine eher blasse Randfigur, da der Fokus klar auf Pauls Trauerbewältigung liegt. Für volle fünf Sterne hätte ich mir hier noch ein wenig mehr Tiefe gewünscht.


"Du bist ein Nerd, Paul Stelter."
"Ich weiß, Mara Kurt."

Das Ende kam für mich trotz einiger Andeutungen relativ überraschend und findet einen runden Abschluss für die Geschichte, sodass wir Paul guten Gewissens auf seinem weiteren Weg alleine lassen können.




Fazit:

"Das Jahr in der Box" ist ungezwungen erzählt, aber nicht flapsig, teilweise ungewöhnlich aber nicht unrealistisch, auf nette Weise schräg aber nicht konfus und allgemein so voller witziger, glücklicher aber auch trauriger, tragischer Momente, dass man es einfach lieben muss. Eine beeindruckende Geschichte über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...


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*unbezahlte WERBUNG* 
Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar, was meine ehrliche Meinung jedoch nicht beeinflusst hat. 
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