Allgemeines
Titel: Das wirkliche Leben
Autor: Adeline Dieudonné
Verlag: dtv (24. April 2020)
Genre: Coming-of-Age-Drama
ISBN-10: 3423282134
ISBN-13: 978-3423282130
ASIN:
B07ZRVL6SZ
Seitenzahl: 240 Seiten
Originaltitel: La
Vraie Vie
Preis: 9,99 (Kindle-Edition)
18€ (gebundene
Ausgabe)
11,95€ (Taschenbuch)
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Inhalt
Eine Reihenhaussiedlung am Waldrand, wie es viele gibt. Im hellsten der Häuser
wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit seiner Familie. Alles normal. Wären da
nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky vor allem den
Rausch der Jagd liebt.
In diesem Sommer erhellt nur das Lachen ihres kleinen Bruders Gilles das Leben
des Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert. Nichts
ist mehr wie zuvor. Mit der Energie und der Intelligenz einer mutigen
Kämpferin setzt das Mädchen alles daran, sich und ihren Bruder vor dem
väterlichen Einfluss zu retten. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer
deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer
selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends
ins Visier ihres Vaters gerät.
Bewertung
Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv
erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große
Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise
gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem
Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor
allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die
Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den
Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des
Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen,
die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte
mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr
losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche
beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung,
wie es sich herausstellte...
"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."
"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich
eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert
jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich
einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir
unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken
zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später
- als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig
beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben,
denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das
Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht
vergessen werde.
"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."

Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.
"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."
Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger
wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau -
diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas
Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die
Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen
aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch
bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die
Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie
jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie
selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage
im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar
ersichtliche Eskalation zutreibt.
"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."
Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wieder.
So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt
das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist
ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten
Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der
Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der
Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich
zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die
teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatterelemente
kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der
Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen
Sinn.
"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."
Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld
und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene
Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens
bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen
körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der
Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass
nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr
Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und
sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten
Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die
Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf
Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren
wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine
Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt,
die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster",
die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte
Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine
Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten
Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut
zur allgemeinen Machart des Romans.
"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."
Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die
klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die
vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige
Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt -
zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und
inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese
verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und
Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht
und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der
Wunsch zu schockieren.
„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“
Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des
Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein
Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter
oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier
nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch
zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem
Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin
machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der
Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart
stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang
mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum
Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die
Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer
Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige
Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss
man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen.
Ich kann
verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden
kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke
jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur
noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen
und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön
zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend,
tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich
nicht missen wollte.
Fazit
Adeline Dieudonnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und
Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt,
sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche
Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!
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Vielen Dank an den dtv Verlag für das Rezensionsexemplar, was meine ehrliche Meinung jedoch nicht beeinflusst
hat.
Quelle Informationen: Amazon.de. Klapptexte und Zitate sind Eigentum des
Verlags oder jeweiligen Rechtinhabers.
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