Sonntag, 20. Juli 2025

Von Blurryface bis Breach: Die Lore von Twenty One Pilots

Einleitung: Das narrative Universum von TØP


Die Idee, einen Sammelpost zur Lore meiner Lieblingsband Twenty One Pilots zu schreiben, spukt schon länger in meinem Kopf herum. Spätestens seit dem Release von "Clancy" 2024 und dem spektakulären Konzert in München dieses Jahr im April ist meine Begeisterung für die Band, die mich seit 2015 begleitet, wieder aufgeflammt und zu neuen Höhen aufgestiegen. In dem ersten und bislang einzigen autorisierte Buch über die US-amerikanische Band "The Ønly Band in the Wørld" habe ich dann in den letzten Wochen nochmal ausführlicher mit den einzelnen Alben beschäftigt und kurzerhand beschlossen, noch tiefer in das Narrativ des Duos aus Ohio einzutauchen und meine Gedanken dazu in diesem Beitrag zu sammeln. Natürlich sind das hier eben nur das - meine Gedanken -, und auch wenn es viele mal mehr und mal weniger bestätigte Fantheorien gibt, bieten die Musik, die Lyrics und die Videos noch zu viele offene Rätsel, als dass es sich hierbei um die einzig richtige Deutung handeln kann. Kunst ist immer eine  Projektionsfläche und damit höchst subjektiv, schreibt mir also gerne, wenn ihr etwas anders seht und teilt Eure Ideen in den Kommentaren. 

Doch wieso ist es überhaupt notwendig und interessant, einen Blick auf die Lore der Band zu blicken? Twenty One Pilots, bestehend aus Tyler Joseph und Josh Dun, hat über die letzten 10 Jahre ein komplexes narratives Universum geschaffen, das weit über ihre tatsächliche Musik hinausgeht. Mit einer plattformübergreifende Erzählweise, die sich über kryptischen Websites, soziale Medien, Briefe, Interviews und Musikvideos erstreckt, hat die Band ihre Musik durch transmediales Storytelling ergänzt, das die Fangemeinde, die „Skeleton Clique“ aktiv zur Entschlüsselung und Mitgestaltung einläft. Durch visuelle Metaphern, Farbcodes, wiederkehrende Symbole, Handlungsorte sowie fiktive Figuren bietet die Lore den Fans einen erzählerischen Rahmen und eine gemeinsame Sprache für verschiedene Themen rund um psychische Gesundheit, die inhaltlich im Kern aller Alben steckt. So setzt sich in Symbolen, Songtexten, Musikvideos, Live-Erlebnissen und digitalen Schnipseln ein Puzzle aus Verlust, Rebellion, Isolation und Hoffnung zusammen. Fünf Alben markieren die wichtigsten Stationen dieser Reise: Blurryface (2015), Trench (2018), Scaled and Icy (2021), Clancy (2024) – und nun Breach (2025). Jedes Kapitel bringt eine neue Dimension, vertieft bestehende Konflikte und stellt die zentrale Frage in neuem Licht: Wie führt man einen Kampf gegen sich selbst und schafft es, den eigenen Gedanken zu entfliehen?



Der Beginn des Konflikts – Blurryface (2015)


Auch wenn die Geschichte von Twenty One Pilots schon weit vor ihrem großen Durchbruch mit "Blurryface" begann - die drei Alben "Vessel" (2013), "Regional at Best" (2011) und "Twenty one Pilots" (2009) gehören weiterhin zu meinen liebsten der Band -, beginnt die Lore offiziell mit ihrem zweiten Studioalbum: "Blurryface"

"My name’s Blurryface and I care what you think." - Stressed Out

Mit diesem Satz aus dem Song „Stressed Out“ etabliert die Band eine zentrale Figur: Blurryface, die personifizierte Unsicherheit, ein alter Ego von Sänger Tyler Joseph, das all die Ängste, Selbstzweifel und inneren Saboteure verkörpert, die ihn und viele seiner HörerInnen im Leben begleiten. Blurryface ist also kein externer Gegner, sondern ein Teil von uns. In den Songs des Albums wird diese innere Stimme mal verspottet, mal gefürchtet, oft aber einfach akzeptiert als permanente Begleitung im Alltag einer Generation, die mit sozialen Medien, Leistungsdruck und Depressionen aufwächst. Symbolisch tritt Blurryface durch schwarze Farbe an den Händen und am Hals von Tyler auf, die auch jeden Live-Auftritt der Blurryface-Ära zieren und im Laufe der Show häufig zu bröckeln beginnen - ein Hinweis auf die befreiende Wirkung von Musik und dem Teilen seiner Probleme mit anderen. Zusätzlich dominiert die Farbe rot die visuelle Ästhetik des Albums, die für Gefahr, Scham, Wut und den emotionalen Alarmzustand steht, in dem man sich befindet, wenn man sich selbst nicht vertraut. 

"Death inspires me lika a dog inspires a rabbit." - Heavidirtysoul

Bereits in Liedern wie "Ride", "Fairly Local" oder "Doubt" lässt sich erkennen, dass die Hauptfigur dieser frühen Lore sich in einem inneren Ausnahmezustand befindet. Die eigentliche Storyline beginnt jedoch offiziell  im Musikvideo zu „Heavydirtysoul“, das nachgeschaltet zum Album veröffentlicht wurde. In diesem Video ist Tyler in einem außer Kontrolle geratenen Auto zu sehen, dessen Fahrer eine verhüllte Gestalt ist, die heute als einer der Bischöfe (darauf komme ich später noch zu sprechen) identifiziert wird. Sein Bandkollege, Drummer Josh Dun, erkennbar an seinen frisch gefärbten gelben „Rebellionshaaren“, wird geschickt, um Tyler zu retten. Diese Szene stellt symbolisch einen frühen, verzweifelten Versuch dar, dem erdrückenden Griff von Blurryface und dem repressiven System, das dieser repräsentiert, zu entkommen. Noch gibt es keine klare Rahmenhandlung, keine weiteren Figuren, aber es gibt hier bereits einen mentalen Käfig, dem Tylers lyrisches Ich zu entkommen versucht. 
 
"I used to say "I wanna die before I´m old", but because of you I might think twice" - We dont´s believe what´s on TV"

Rückblickend lässt sich also sagen: "Blurryface" war nie „nur“ ein Konzeptalbum über Angst. Es war das Fundament einer psychologischen Erzählung, die in späteren Alben in eine konkrete, dystopische Welt übersetzt wurde. Auch wenn Orte und Figuren erst später klar benannt wurden, ist "Blurryface" inhaltlich bereits der erste Kontakt mit dem, was später Dema genannt werden wird – einem Ort der Kontrolle, der inneren Gefangenschaft und des schleichenden Selbstverlusts. Die Rebellion beginnt hier noch leise, fast schüchtern. Songs wie "Goner" oder "We dont´s believe what´s on TV" deuten eine erste Hoffnung an, dass es ein „Ich“ jenseits von Blurryface geben könnte – aber dieses Ich ist verletzlich, fast verschwunden:
 
"Though I'm weak and beaten down / I'll slip away into this sound" - Goner

Das Album endet nicht mit einer Lösung, sondern mit einem Versprechen: Der Kampf hat gerade erst begonnen. Und er wird in den kommenden Jahren nicht nur in der Musik weitergeführt, sondern in einer eigenen Welt, deren dunkle Tür sich mit dem nächsten Kapitel öffnet...



Auf nach Dema – Trench (2018)


Nach dem „Heavydirtysoul“-Video legte die Band eine einjährige Pause ein, die im Juli 2017 begann. Diese Zeit war geprägt von kryptischen Änderungen in den sozialen Medien, darunter ein sich langsam schließendes rotes Auge und eine finale Überschrift, die „Silence“ verkündete. Ein Jahr blieb es still um die Band. Doch im April 2018 entdeckten Fans eine versteckte URL, die zu dmaorg.info führte, einer mysteriösen Website mit kryptischen Fotos und Briefen, die von einer Figur namens Clancy unterzeichnet waren. Eine anfängliche „404 ER_ROR“-Seite auf der Website enthielt verstreute Großbuchstaben, die, wenn sie entschlüsselt wurden, „EASTISUP“ ergaben – eine entscheidende Phrase, die zu einem Schlachtruf und einer Richtungsangabe für die Fluchtnarrative in der nun folgenden Trench-Ära werden sollte. 
 
East is up, I'm fearless when I hear this on the low / East is up, I'm careless when I wear my rebel clothes.” – Nico and the Niners 

Ausgehend von der Website dmaorg.info entspann sich bereits vor der Veröffentlichung der ersten Songs das Grundgerüst einer Handlung, die sich aus Tagebüchern und kryptischen Bildern zusammensetzte. Wir lernen Figur und Erzähler Clancy kennen, der in einer kreisförmigen Stadt namens Dema auf dem Kontinent Trench wohnt. Der Name Dema leitet sich vermutlich vom zoroastrischen „Dakhma“ ab – einem „Turm des Schweigens“, der in der monotheistischen Glaubensrichtung Persiens auf einem Hügel errichtet wurde, um die Toten aufzubahren, die häufig von Geiern verzehrt wurden. Diese Parallele spiegelt sich in Dema als ritualisierte Stadt der Toten mit neonfarbenen Gräbern, Geiern und der Wiederverwendung von Leichen durch Psychokinese wider. 

Nachdem Clancy neun Jahre lang von den sogenannten Bischöfen (Bishops) in Dema gefangen gehalten wurde, die die dystopische Stadt regieren und von denen jeder eine von Tylers Unsicherheiten repräsentiert, beginnt er, die repressive theokratische Herrschaft der Stadt und deren Religion, den Vialismus, der die Selbsttötung als Weg zum „Paradies“ vorschreibt, zu hinterfragen. In seinen Briefen wird Clancys wachsende Desillusionierung und seinen Wunsch nach Freiheit offenbart, die schließlich in mehreren Fluchtversuchen aus Dima gipfeln wird, welche den Kern von "Trench" darstellen. 

Das Musikvideo zu „Heavydirtysoul“ zeigt also retrospektiv integriert, einen frühen Fluchtversuch, der allerdings vereitelt wird. Was zuvor noch metaphorisch war, nimmt 2018 also mit "Trench" erstmals konkrete Gestalt an: Eine dystopische Stadt wird zum Schauplatz psychologischer Kämpfe, in der Ängste und Unsicherheiten durch die Bischöfe als reale Bedrohung visualisiert werden. In dem die Bischöfe Clancy immer wieder aufspüren und zurück nach Dema zerren, wird der anhaltenden Griff seiner innerer Kämpfe spürbar und der zyklische Charakter von Depressionen und psychischen Erkrankungen hervorgehoben. "Trench" dokumentiert den zyklischen Prozess der Befreiung mit beeindruckender visueller und klanglicher Symbolik: Die Düsternis der Stadt, die rauen Töne der Musik, das fast greifbare Gewicht der Entscheidung, sich gegen das Bekannte zu stellen. Für viele Fans ist "Trench" das Herzstück der Lore – das Werk, in dem die Metaphern aus "Blurryface" erstmals eine konkrete Welt formieren, die in den kommenden Alben weiter ausgebaut werden soll...

Jumpsuit, jumpsuit cover me.” – Jumpsuit

Auch im Opener "Jumpsuit", in dem Clancy einen schützenden Overall trägt, der ihn vor den Bishops abschirmen soll, versucht er, Dema zu entkommen. Das Video zu dem Song zeigt Clancy, wie er durch eine unwirtliche Landschaft flieht und von einem Reiter in Schwarz, dem leitenden der neun Bischöfe Nico (Blurryface) verfolgt wird. Im titelgebenden Niemandsland zwischen Dema und der Freiheit, "Trench" (wörtlich: (Schützen-)graben; ein metaphorisches Kriegsgebiet, aber auch ein mentaler Zustand zwischen Hoffnung und Rückfall) trifft Clancy schließlich auf die gelb gekleidete Rebellengruppe der Banditos. Als Farbe der Hoffnung, des Lichts und der Rebellion ist die Farbe gelb unsichtbar für die Bischöfe. Damit ist gelb ein wichtiges Symbol der Trench Ära und auf Konzerten präsent durch gelbes Tape auf schwarzer oder grüner Kleidung. Leider glückt Clancys Flucht jedoch auch diesmal nicht und er wird schließlich von Nico durch einen Prozess namens „Smearing“ wieder gefangen genommen, bei dem schwarze Spuren an seinem Hals und seinen Händen erscheinen, was Nicos (Blurryface) erneute Kontrolle symbolisiert. 

In „Nico and the Niners“ entwickelt Clancy gemeinsam mit den Banditos, angeführt vom Torchbearer (Fackelträger; Josh Dun), einen Fluchtplan. Während während der „Annual Assemblage of the Glorified“, einem schrecklichen Vialismus-Ritual, das den Tod der angesehensten Bürger Demas beinhaltet, gelingt die Flucht. In "Levitate" erreicht Clancy das Lager der Banditos und beginnt, rebellische Musik gegen Dema zu machen, als jedoch das Lager überfallen wird und er erneut von Nico gefangen genommen wird. Dieses Motiv zieht sich also durch das gesamte Album. Während "Levitate" den Kampf als beinahe ritualisierte Handlung beschreibt, führen Songs wie "My Blood" und "Bandito" zurück zur Kraft von Beziehungen: Loyalität, Gemeinschaft, der Mut, gemeinsam auszubrechen. Die Lyrics lassen Raum für Interpretation, aber die Narrative ist klar: Clancy ist in seinem Kampf trotz der vielen Rückschläge nicht allein!

They know that it's almost over / I know that I'm not coming back.” - Leave the City

Die letzte Etappe der Flucht ist "Leave the City" im Finale des Albums. Es ist ein stiller, fast gebrochener Song, der allerdings Clancys seelische Entschlossenheit, Dema endgültig zu verlassen beschreibt. Auch wenn er weiterhin in Dema gefangen ist, lebt sein Wille zur Flucht weiter.  Der Song spiegelt also den emotionalen Abschluss von "Trench" wider, nicht unbedingt das narrative Finale, das auf das nächste Album verlagert wird. 



Die Fassade des Friedens – Scaled and Icy (2021)


Nach dem düsteren und rebellischen "Trench" wirkt das vierte Studioalbum "Scaled and Icy" auf den ersten Blick wie das genaue Gegenteil: bunt, fröhlich, ironisch leichtfüßig. Wo zuvor schwarz und rot, dann grün und gelb auf dem Plan standen, dominieren nun helle Pastellfarben die visuelle Ästhetik. Der Sound ist poppig, versöhnlich, fast radiofreundlich. Doch wer genau hinhört – und hinschaut –, merkt schnell, dass diese scheinbare Fröhlichkeit nichts anderes ist als eine gut getarnte Maske, hinter der erneut die Abgründe Demas lauern. Schon der Albumtitel ist ein versteckter Hinweis: "Scaled and Icy" ist ein Anagramm von "Clancy is dead". Hat Clancy nach dem vorläufigen Ende in "Leave the city" also etwa doch seinen Kampf aufgegeben? 

“The sunshine is a hell of a drug.” – Good Day

So scheint es zunächst. Nach seiner erneuten Gefangennahme verbringt Clancy mehrere Jahre in Demas Gefängnis, wo er aufgrund seiner rebellischen Briefe und Musik zu einer legendären Figur innerhalb der Stadt wird. Die Bischöfe erkennen seinen Einfluss und nutzen seinen Ruhm aus, indem sie ihn zwingen, Propaganda für sie zu erstellen. Diese erzwungene Zusammenarbeit manifestiert sich in dem Album, das auf den ersten Blick Demas Ideale zu feiern scheint, aber subtil mit versteckten Botschaften und „Hilferufen“ versehen ist, die Clancy eingeschmuggelt hat. Die Songs auf "Scaled and Icy" wirken oft positiv, doch die Lyrics erzählen von Depression, Kontrollverlust und Verdrängung. In "Shy Away" etwa wird der Druck beschrieben, Erwartungen zu erfüllen, sich selbst aufzugeben. In "Choker" zeigt sich Clancy gebrochen und resigniert, in "Good Day" dominiert erzwungene Positivität. 

Visuell umgesetzt wird dieser Teil der Geschichte in dem Livestream-Konzert, das "Feature Performance Event on Good Day Dema“. Während dieser circa einstündigen Aufführung ist Clancy gezwungen, in einer von zwei Bischöfen moderierten Propagandashow Demas Bürger zu unterhalten. In der surrealen, kunstvoll inszenierten Live-Performance sehen wir, wie eine perfekte TV-Welt aufgebaut wird – von Kamera-Crews gelenkt, durch Werbung unterbrochen und von undurchsichtigen Gestalten aus dem Hintergrund beobachtet. Dema hat sich also angepasst. Anstatt offene Gewalt zu nutzen, wird nun mit Scheinwirklichkeiten gearbeitet, Musik wird zum Mittel der Propaganda. 

"Lose my sense a time or two / Weeks feel like days / Medicate in the afternoon / And I just want to know / Have you lost your footing, too?" - Saturday

In der Livestream Experience wird Clancy nicht mehr als aktiver Kämpfer dargestellt. Er ist abwesend – vielleicht tot, vielleicht untergetaucht, vielleicht gebrochen. Erst in "Saturday" tritt ein entscheidender Wendepunkt ein. Im Musikvideo sehen wir, wie der Bischof Keons in einem überraschenden Akt des Verrats an den anderen Bischöfen seine psychokinetischen Kräfte nutzt, um den riesigen Seedrachen Trash zu beeinflussen. Trash zerstört daraufhin ein U-Boot, auf dem Clancy für Demas VIPs auftritt, ein Akt, der sowohl Clancy als auch den Torchbearer (Josh Dun) endgültig aus Demas direktem Zugriff befreit. Dieses Ereignis markiert eine signifikante Verschiebung in den Machtverhältnissen.  

I’m already bored, I’m pretty sure I’ve seen this one before.”  – The Outside

In "The Outside" stranden Clancy und der Torchbearer nach ihrer dramatischen Flucht auf Voldsoy, einer Insel, die zuvor vom Konflikt unberührt war. Hier entdecken sie süße kleine Kreaturen mit Geweih (erstmals im Musikvideo von "Chlorine" zu sehen), deren Geweih psychokinetische Fähigkeiten verleiht – dieselben Kräfte, die von den Bischöfen eingesetzt werden. Clancy erlangt diese Kräfte und nutzt sie sofort, um den Körper des verstorbenen Bischofs Keons zu kontrollieren und anschließend ein Feuer in Dema zu legen, was seine Transformation von einem Opfer der Unterdrückung zu einer aktiven, mächtigen Kraft der Rebellion symbolisiert. Besonders spannend ist, dass der Song aus der Sicht eines Bishops erzählt zu sein scheint – einer Stimme, die von außen kontrolliert, beobachtet und von Clancys Anstrengungen eher gelangweilt scheint. Mit einem brennenden Dema und einer Gruppe aus Rebellen, die mit ihren Fackeln die Nacht erhellen, endet diese Ära. Ein Ende der Geschichte kündigt Tyler im kommenden Album an.

Neben der Storyline lohnt sich auch ein kurzer Blick auf den Hintergrund des Albums. "Scaled and Icy" - kurz für "Scaled back and isolated" - entstand nämlich mitten in der Corona-Pandemie, weshalb sich Themen wie Isolation, innere Kämpfe, das Gefühl gefangen gehalten zu werden und "das Beste daraus machen" zu müssen, in der Lore und in den Songs widerspiegeln. Wie es Twenty one Pilots gelungen ist, die begonnene Geschichte weiterzuerzählen und gleichzeitig auf einer zweiten Inhaltsebene die Pandemie, den Lockdown und alle damit einhergehenden Probleme musikalisch zu verarbeiten, ist wirklich großartig gelungen. Auch wenn das Album von vielen Fans eher belächelt und als experimentelle Pause, als Zwischenspiel und Komfort-Album verstanden wird, trägt es viel zu Lore und der musikalischen Entwicklung der Band bei und beschert uns nebenbei auch einige der legendärsten TOP-Songs. 



Der Gegenschlag – Clancy (2024)

Nach dem betäubend-propagandistischen Stillstand von Scaled and Icy (2021) ist es lange still geblieben um Twenty One Pilots. Erst nach drei Jahren wird überraschend das Album "Clancy" angekündigt, das nach dem Helden der Lore und Tylers Alter Ego benannt ist. Im Video „I Am Clancy“ richtet sich Tyler erstmals offen in einem Video an das Fandom und erklärt in einer Art Rückblick die bisherige Lore und kündigt somit die Rückkehr zur Geschichte, zu Clancy, zu Dema an. 

Welcome Back to Trench" - Overcompensate 

So heißt es im fulminanten Opener "Overcompensate". Gestärkt durch seine neu erworbenen psychokinetischen Fähigkeiten kehrt Clancy auf den Kontinent Trench zurück, nicht länger nur ein Flüchtling, sondern eine „Ausnahme“, die in der Lage ist, dieselbe Kraft wie die Bischöfe zu nutzen. Diese Transformation bereitet die Bühne für eine direkte Konfrontation mit den unterdrückenden Kräften Demas, da er nun gerüstet ist, sie zu ihren eigenen Bedingungen herauszufordern. Die Rückkehr erfolgt nicht aus Schwäche, sondern aus Entschlossenheit. Aus einem inneren Ruf, den viele kennen: Um sich endgültig zu befreien, muss man dem Trauma ins Gesicht sehen – dort, wo es entstanden ist. Damit ist "Clancy" musikalisch und erzählerisch ein Wendepunkt und gleichzeitig das reifste, komplexeste Kapitel der Lore von Twenty One Pilots. Der Sound ist wieder härter, kantiger, zerbrechlicher. Elektronische Rhythmen mischen sich mit analogen Instrumenten, düstere Klangflächen kontrastieren mit hymnischen Refrains. Die Welt Dema hat sich nicht verändert – aber Clancy hat es. Aus Flucht wird Rückkehr. Aus Angst wird Verantwortung. Aus Symbolik wird Handlung. 

Dementsprechend wurde vorab erwartet, dass es sich mit "Clancy" ebenfalls wieder um ein Konzeptalbum wie "Trench" mit stark ausgeprägter Lore handeln würde. Überraschenderweise gehen allerdings nur der erste Song - "Overcompensate" - und der letzte Song des Albums - "Paladin Strait" explizit auf die Rahmengeschichte Clancys ein und ansonsten werden neben Anspielungen eher für sich alleine stehend kleine Geschichten erzählt, die allerdings alle um ähnliche Themen kreisen. In "Next Semester" geht es beispielsweise um die zyklische Natur von Trauma. Der Text erzählt vom Gefühl, immer wieder zurückgeworfen zu werden, von Versuchen, neu zu beginnen – und vom ständigen Scheitern, das dennoch nicht aufgibt. Ähnlich in "Backslide", "Snap Back" und "Navigating", in denen es um die Suche nach Orientierung im Leben, persönlichen Wachstum und Rückfälle als natürlicher Teil des Heilungsprozesses geht. Es ist eine neue Reife, die hier spürbar wird – Clancy ist nicht mehr nur ein Ausreißer, sondern ein Mensch in Konfrontation mit sich selbst.

"I don't wanna backslide to where I've started from/ There's no chance I will shake this again" - Backslide

In "Midwest Indigo" folgt eine Rekapitulation von Tylers Kindheit im mittleren Westen der US, in "Routines in the Night" geht es um Clancys nächtliche Routinen und die Gedanken, die ihn in diesen stillen Stunden verfolgen. Auch Abhängigkeit ("Vignette") und die Oberflächlichkeit der Musikindustrie ("Lavish") werden thematisiert. Am emotionalsten wird Clancy vielleicht in "The Craving" - einer Ballade an seine Frau und in "Oldies Station", in dem es um den Sinn des Kampfes geht und das eine der positivsten und motivierendsten Botschaften der gesamten Lyrics abgibt:

"When darkness rolls on you. Push on through" - Oldies Station


Es scheint hier, als würde Tyler immer weniger von der Lore abhängig sein, um sich inhaltlich mit den üblichen Themen wie Angst, Mental-Health, Einsamkeit, Langeweile, Tod, Verlust und Selbstzweifel auseinanderzusetzen, sondern immer mehr den Mut findet, sich frei auszudrücken.  So fühlt sich das Album sehr persönlich und an vielen Stellen geradezu intim an. Die Texte wirken dichter, die Videos trotz des teilweise fehlenden direkten Lore-Bezugs symbolisch aufgeladen. Die visuelle Welt des Albums zeigt einen gespaltenen Clancy – mehrfach gespiegelt, verzerrt, fragmentiert. In manchen Szenen trägt er sogar die Gewänder der Bishops. Es ist, als hätte er einen Teil von Nico in sich aufgenommen. Dualität, Identitätskrise, Transformation – all das kulminiert in einem Ort, der für viele Fans zum mythologischen Herz der neuen Lore geworden ist: "Paladin Strait"

Im letzten Song des Albums und im dazugehörigen Musikvideo wird der Hauptteil der Geschichte des Albums erzählt. Gemeinsam mit den Banditos schmiedet Clancy einen Plan, um in eine finale Schlacht gegen die Bishops zu ziehen. Während die Bishops eine Armee aus Zombies auf die abgreifenden Rebellen hetzen, rennt Clancy alleine für eine allerletzte Konfrontation zum Turm der Bishops und nutzt seine neuen Kräfte, um gegen sie zu kämpfen. Als er gerade dabei ist, sie zu besiegen, taucht allerdings plötzlich Nico auf und packt Clancy am Hals. 

"So few. So proud. So emotional. Hello, Clancy” – Paladin Strait

Mit diesem musikalischen und inhaltlichen Cliffhanger endet das Album, das doch ursprünglich das letzte Kapitel der aktuellen Dema-Lore hätte sein sollen. In einem Interview fragt Tyler allerdings suggestiv: "Does this sound like the end to you?" Die Gerüchte und Spekulationen der Fans erreichen ein neues Hoch und es werden immer mehr Hinweise auf ein Doppelalbum gesammelt. Was sich zunächst wie ein Wunschtraum der Clique anhört, wird im April 2025 mit der Ankündigung von "Breach" tatsächlich bestätigt: "Clancy" erhält im September 2025 ein Schwesteralbum mit weiteren 13 Songs, die das Kapitel nun endgültig abschließen werden. 


Das letzte Kapitel?  Breach (2025)


Viel ist über "Breach" noch nicht bekannt. Die Clique wäre allerdings nicht die Clique, wenn nicht allein schon der Titel des Albums zu großen Spekulationen geführt hätte. Schon die Ankündigung des Albums, die von einer Reihe kryptischer Hinweise, Briefe und Morsecode-Nachrichten begleitet wurde, hat die Fans wieder aktiv in die Entschlüsselung des Albumtitels miteinbezogen. Laut führender Fantheorien birgt der Titel mehrere bedeutende Implikationen: Es könnte eine „Breach“ (Bruch) der Mauern Demas (eine endgültige Flucht), eine „Breach“ eines Vertrags (ein Verrat oder Bruch eines Paktes, vielleicht des in der ersten Single, „The Contract“, geschlossenen) oder, am tiefgreifendsten, eine „Breach“ der zyklischen Natur des Kampfes selbst bedeuten.

"I promised you a contract” – The Contract

Die Veröffentlichung der ersten Single, "The Contract", legt nahe, dass das Lied und sein Musikvideo Clancys intensiven inneren Kampf darstellen, möglicherweise während er von Nico während der schicksalshaften Sekunden in "Paladin Strait" gewürgt wird. Das verblassende Auftreten von Josh (dem Torchbearer) wird als Halluzination interpretiert, eine manipulative Taktik, die Nico anwendet, um Clancy zu einem Handel zu verleiten oder ihn alternativ von seiner Abmachung mit den Banditos abzubringen. Wer genau mit wem einen Vertrag abgeschlossen hat und was das bedeuten wird, ist noch nicht übereinstimmend geklärt. Welche Erwartungen an "Breach" als Abschluss der Lore gestellt werden, ist jedoch klar. Es wird damit gerechnet, dass in den neuen Songs in einem finalen Showdown Blurryface/Nico konfrontiert wird. Einige Interpretationen legen nahe, dass Clancy seine psychokinetischen Kräfte vollständig nutzen wird, um ihn „ein für alle Mal auszulöschen“ was einen endgültigen Sieg über seine Unsicherheiten impliziert. Eine jedoch vorherrschendere und nuanciertere Theorie besagt allerdings, dass die Lösung Tylers Akzeptanz von Blurryface als inhärenten, integrierten Teil seiner selbst beinhalten wird, wodurch der zerstörerische Zyklus der Verleugnung und Flucht beendet wird. Dies impliziert, dass ein „Abschluss“ nicht unbedingt einen endgültigen, absoluten Sieg oder die Ausrottung des Bösewichts zu bedeuten haben muss. Stattdessen ist es wahrscheinlicher, dass es eine tiefgreifende Verschiebung in der Beziehung des Protagonisten (Tyler/Clancy) zu seinen inneren Kämpfen darstellt. Ich persönlich halte es deshalb für am wahrscheinlichsten, dass der "Bruch" für ein Brechen des Zyklus des Kampfes und der Rückfälle stehen könnte, anstatt für die vollständige Eliminierung des Kampfes selbst. Diese Perspektive würde eine realistischere, reifere und letztendlich hoffnungsvollere Botschaft über das Leben mit und die Bewältigung psychischer Herausforderungen bieten, bei der „Sieg“ als Akzeptanz, Integration und nachhaltige Bewältigung neu definiert wird. 

Stand Juli 2025 sind dies allerdings nur reine Spekulationen und es bleibt abzuwarten, was sich Tyler und Josh für dieses Kapitel überlegt haben!



Fazit: Ein Meisterwerk!


Die Lore von Twenty One Pilots ist ein eindringliches Kunstwerk über das Ringen mit sich selbst – und mit den Kräften, die uns formen, zwingen und definieren wollen. Vom inneren Zweifel in "Blurryface" über die dystopische Flucht in "Trench", die Maskerade in "Scaled and Icy" bis zur Konfrontation und Transformation in "Clancy" und "Breach" erzählt die Band eine Geschichte, die viele ihrer HörerInnen auf einer tief persönlichen Ebene berührt. Insgesamt ist die Lore von Twenty One Pilots ein herausragendes Beispiel für transmediales Storytelling, das persönliche Kämpfe in eine kollektive Reise verwandelt. Sie bietet den Fans nicht nur eine fesselnde Geschichte, sondern auch ein Werkzeug zur Selbstreflexion und zur Stärkung der Gemeinschaft, indem sie die universellen Themen von Widerstand, Hoffnung und der Suche nach dem eigenen Platz in einer komplexen Welt aufgreift. Clancy ist kein Held im klassischen Sinne. Er ist kein Sieger. Aber er ist ein Spiegel. Und genau das macht seine Geschichte so bedeutsam: Sie endet nicht mit einem Triumph – sondern mit der Möglichkeit immer weiterzumachen. Trotz allem.

Was bedeutet die Lore für Euch?

Jetzt bin ich sehr gespannt auf Eure Meinungen zu den Alben, der Lore und der Band im Allgemeinen. Schreibt mir gerne, was Ihr zu den einzelnen Theorien denkt!

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