Allgemeines
Titel: Das unsichtbare Leben der Addie LaRue
Autorin:
V.E. Schwab
Verlag: Fischer Verlag (26. Mai 2021)
Genre: Fantasy-Drama
ISBN-10: 3596705819
ISBN-13:
978-3596705818
ASIN: B08LK8X2Z8
Seitenzahl: 592
Seiten
Originaltitel: The Invisible Life of Addie LaRue
(übersetzt von Petra Huber und Sara Riffel)
Preis: 12,99€
(Kindle-Edition)
18€ (Broschiert)
Link:
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Inhalt
"Was ist ein Mensch, wenn nicht die Gesamtheit der Spuren, die er
hinterlässt?"
Addie LaRue ist die Frau, an die sich niemand erinnert. Die unbekannte Muse
auf den Bildern Alter Meister. Die namenlose Schönheit in den Sonetten der
Dichter. Dreihundert Jahre lang reist sie durch die europäische
Kulturgeschichte – und bleibt dabei doch stets allein.
Seit sie im Jahre 1714 einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, ist sie
dazu verdammt, ein ruheloses Leben ohne Freunde oder Familie zu führen und
als anonyme Frau die Großstädte zu durchstreifen. Bis sie dreihundert Jahre
später in einem alten, versteckten Antiquariat in New York einen jungen Mann
trifft, der sie wiedererkennt. Und sich in sie verliebt.
Bewertung
Victoria Schwab ist eine der Autorinnen, die ich schon seit einigen Jahren
abwartend umkreise, entschlossen, dass ich ein Buch von ihr lesen möchte,
aber unentschlossen, welches und wann. Eine lesebegeisterte Freundin hat mir
die Entscheidung dann schlussendlich abgenommen, als sie mich beinahe dazu
genötigt hat "Das unsichtbare Leben der Addie LaRue" auszuleihen. In
der letzten Woche habe ich die Geschichte nun gemeinsam mit Sofia @
SofiasworldofBooks in einem Buddyread gelesen und bin nach dem Beenden nun schon seit mehreren
Stunden
in einer seltsamen Stimmung irgendwo zwischen Begeisterung,
Melancholie, Weltschmerz und Leere gefangen (I think that´s called a
book hangover...), welche jetzt dringend raus muss:
"Addie räuspert sich. "So fängt die Geschichte an." Und er beginnt zu
schreiben."
Doch beginnen wir mal mit dem
Cover. Auch wenn ich die schlichte englische Originalversion mit dem goldenen
Sternbild für passender halte, finde ich die Umsetzung des Fischer Verlags
atmosphärisch und einfach wunderschön. Zu sehen ist eine an ein Stundenglas
erinnernde Glaskugel, die von goldenen Ornamenten gestützt in einem düsteren,
magischen Wald steht. Durch die verzerrte Perspektive des Glases ist eine
Gestalt in einem langen grünen Mantel zu sehen, die sich vom Betrachter
abgewandt auf ein Licht zubewegt. Auch wenn man viele dieser Elemente erst
versteht, wenn man die Geschichte gelesen hat, hat dieses Cover eine
geheimnisvolle Anziehungskraft, die der der Geschichte stark ähnelt.
"Die alten Götter mögen groß sein, aber sie sind weder freundlich noch
barmherzig, sondern launisch und unbeständig wie Mondlicht auf Wasser oder
wie Schatten in einem Sturm. Wenn du sie anrufen willst, gib acht:
Überlege genau, worum du bittest, und sei bereit den Preis zu zahlen. Und
ganz gleich, wie verzweifelt du bist, bete niemals zu den Göttern, die
nach Einbruch der Nacht antworten."
Mit dieser Warnung beginnt eine ausdrucksstarke, magische Geschichte von
zeitloser Schönheit, die mich von der Grundidee her zunächst an Goethes
"Faust" und Claire Norths "The Sudden Appearance of Hope"
erinnerte. In ersterem wird ebenfalls ein Pakt mit einem dunklen Gott
geschlossen, welcher zu einem turbulenten Leben voller Höhen und Tiefen führt
und in letzterem wird eine von der Welt vergessene junge Frau zur Diebin. Ganz
dem Titel folgend stellt V.E. Schwab jedoch weder den Teufelspakt noch die
diebische Lebensweise der Protagonistin in den Vordergrund, sondern erzählt
von einem unsichtbaren Leben, welches die Leerstellen in der
(Kunst-)Geschichte Europas füllt. Dazu ist die Geschichte in sieben Teile
eingeteilt (eines für jede Sommersprosse auf Addies Gesicht), welche jeweils
mit einem Kurzportrait eines Kunstwerks beginnen, welches Addie auf ihrem Weg
durch die Zeit inspiriert oder beeinflusst hat. Die sieben vorgestellten
Kunstwerke sind dabei frei erfunden, aber wahrheitsgetreu den Stilrichtungen
in den unterschiedlichen Zeiten nachempfunden. Dabei hat der Autorin nach
eigener Angabe ihr Kunstgeschichtsstudium sehr geholfen.
"Ich kann keinen Stift führen. Keine Geschichte erzählen. Keine Waffe
schwingen oder Erinnerungen hinterlassen. Aber in der Kunst", fährt sie
mit einem etwas weniger strahlenden Lächeln fort, "geht es um Ideen. Und
Ideen sind hartnäckiger als Erinnerungen. Sie sind wie Unkraut, das immer
den Weg ans Licht findet."
Neben den Kunstwerken wird die Geschichte durch zwei Erzählstränge auf zwei
Zeitebenen strukturiert. Auf der einen Seite lesen wir, wie Addie in New York
2014 den jungen Buchhändler Henry kennenlernt und wie diese schicksalshafte
Begegnung ihr Leben verändert. Gleichzeitig verfolgen wir aber auch noch
parallel einen zweiten Erzählstrang, der 1714 in Villon-sur-Sarthe in
Frankreich seinen Anfang nimmt und in mehr oder weniger großen Zeitsprüngen
chronologisch Addies Weg durch die Geschichte bis zum heutigen Zeitpunkt
verfolgt. Besonders der 29. Juli, der Tag des Abkommens mit dem Schatten,
bekommt dabei eine große Bedeutung und wird über die Jahrhunderte an
unterschiedlichen Orten wiederholt. Die Geschichte lebt dabei von vielen
Vorgriffen, Rückgriffen und Andeutungen, durch welche Vergangenheit und
Gegenwart kunstvoll miteinander verwoben werden, ohne dass wir zu Beginn alles
verstehen. Erst mit der Zeit werden die Rahmenumstände von Addies Fluch klar
und wir verstehen, was sie nach New York geführt hat. Bis mich die Geschichte
in ihren atmosphärischen Bann gezogen hat, sind deshalb auch einige Seiten ins
Land gegangen.
"Adeline ist sechzehn, und alle sprechen von ihr wie von einer
Sommerblume, die man pflückt und in eine Vase stellt, deren einziger Zweck
es ist, zu blühen und dann zu verrotten. Wie Isabelle, die von einer
Familie statt von Freiheit träumt. Adeline hat beschlossen, lieber ein
Baum zu sein, so wie Estele. Wenn sie schon Wurzeln schlagen muss, will
sie wild wuchern, statt sich zurechtstutzen zu lassen, will allein stehen
und unter freiem Himmel wachsen. Und nicht als Feuerholz enden,
gefällt und zerhackt, in jemandes Kamin."
Einmal gefangen, konnte ich aber nicht mehr aufhören mit Lesen. Das lag vor
allem auch an V.E. Schwabs magischem Schreibstil, der langsam, schwergängig - aber so bedeutungsschwer, wie die ganze Geschichte - durch die knapp 600
Seiten führt. Der Schreibstil ist ein bedächtiger Fußmarsch in einer Welt,
in der alle mit 200 Stundenkilometer über die Autobahn rasen - wer ein
flottes Abenteuer erwartet, ist also definitiv fehl am Platz. Angereichert
mit Metaphern, Vergleichen, wiederkehrenden Motiven und interessanten Gedanken
über den Wert eines Lebens, der Liebe und der Kunst wird die gemächliche
Geschichte zu einem Leseerlebnis, das man einfach nur genießen möchte! Wie
sehr mich dabei einige Passagen oder kurze Fragmente erreicht haben, erkennt
man auch daran, wie unheimlich viele Zitate ich mir beim Lesen markiert
habe. Ich bin mir sicher, man könnte das Buch an einer beliebigen Stelle
aufschlagen und würde auf der Seite einen zitierwürdigen Abschnitt finden. Ein
großes Lob also auch an die beiden Übersetzerinnen, denen es gelungen ist,
den Zauber des Originals zu bewahren. Meinen nächsten Reread (ja, es wird
definitiv einen geben) werde ich aber in der Originalsprache angehen.
"Geschichten sind eine Form der Selbstbewahrung. Um in Erinnerung zu
bleiben. Oder sich selbst zu vergessen. Geschichten besitzen viele
Gestalten: in Holzkohle, und in Liedern, in Gemälden, Gedichten, Filmen.
Und Büchern. Bücher sind, wie sie erfahren hat, eine Möglichkeit tausend
Leben zu führen - oder in einem sehr langen Leben Kraft zu finden".
Transportiert durch den Schreibstil hat die Geschichte sehr viele
unterschiedliche Gefühle in mir ausgelöst. Zunächst empfand ich Addies Fluch
des Vergessens als sehr bedrückend. Für wenige Wochen wäre es denke
ich sehr angenehm, sich so anonym durch die Welt bewegen zu können wie
Addie, aber für einen längeren Zeitraum würde ich zugrunde gehen. Der
Gedanke, keine Spuren hinterlassen, keine Beziehungen aufbauen und somit
auch keinen Sinn im Leben finden zu können, hat mich tief erschüttert und
mir die Entscheidung, ob ich an Addies Stelle Freiheit oder Einsamkeit
wählen würde, sehr leicht gemacht. Neben der bedrückenden Vorstellung, sich
für immer einsam und spurlos durch die Geschichte zu bewegen wie ein Geist,
gingen mir auch einige sehr plastische Schilderungen des Leids, das eine
einsame, mittellose und von der Welt vergessene Frau in der grausamen
Männerwelt des 18. Jahrhunderts durchmachen muss, sehr nahe. Neben der
Schwermut und dem Leid schweben da zwischen den Zeilen aber auch ein
intensiver Hunger nach Leben, eine Begeisterung für das Entdecken von Neuem
und das dringliche Gespür für ablaufende Zeit mit, welche mich zugleich
angenehm belebt und in Unruhe versetzt, sowie in mir einen sehr starken
Lebensdrang ausgelöst haben.
"Vergessen zu werden, denkt sie, ist ein bisschen wie verrückt zu werden.
Man beginnt sich zu fragen, was real ist, ob man selbst real ist. Wie kann
etwas real sein, wenn sich niemand daran erinnert?"
Auch die Art und Weise, wie hier geschichtliche Ereignisse betrachtet
werden, gefällt mir gut. V. E. Schwab erzählt nicht von bunten Abenteuern,
Aufeinandertreffen mit schillernden historischen Persönlichkeiten, langen
Weltreisen oder anderen Beifall heischenden Fantastereien, wie man sie hier
vielleicht erwarten könnte. Stattdessen erzählt sie von einem realistischen
Leben, von einer Frau, die sich jeden Schritt hart erarbeiten muss, von
nostalgischer Rückkehr zum Heimatort und von vorsichtigen Schritten auf
neuem Boden. Geschichtliche Ereignisse sind weniger der Mittelpunkt und
mehr der grobe Rahmen dieser charakterzentrierten Erzählung. Im Fokus der
Geschichte steht einzig und allein Addie LaRue. Durch die zweigeteilte
Erzählweise lernen wir sie zum einen als erfahrene, weltgewandte, durch die
Jahrhunderte aber auch abgestumpfte Frau kennen, zum anderen sehen wir ein
junges Mädchen mit naiven Träumen, das noch einen weiten Weg vor sich hat.
Erst mit zunehmender Seitenzahl verstehen wir gänzlich, was sie von dem
einen zum anderen hat werden lassen, was sie auf dem Weg verloren und was
dazugewonnen hat. Dabei ist sie mir von Seite zu Seite stärker ans Herz gewachsen. Ihr Hunger auf die Welt, der sie auch nach 300 Jahre und
darüber hinaus Dinge finden lässt, an denen sie sich erfreuen kann. Ihre
Sturheit und Entschlossenheit, sich weder vom Schatten noch von der
Einsamkeit noch der Last der Jahre unterkriegen zu lassen. Und ihre Träume,
die zu Ideen, die zu Inspiration, Kunst und Spuren werden - Fest steht, dass
ich selten eine so vielschichtige und bewundernswert starke Figur
kennengelernt habe!
"An manchen Tagen graut ihr vor der Aussicht auf ein weiteres Jahr, eine
weitere Dekade, ein weiteres Jahrhundert. In manchen Nächten liegt sie
wach und träumt davon, sterben zu können. Aber dann erwacht sie und
sieht das Orangenrosa der Morgendämmerung auf den Wolken oder hört die
seufzenden Klänge einer Geige, die Musik und die Melodie, und ihr
wird wieder bewusst, wie viel Schönheit es in der Welt gibt. Und sie will
nichts davon entbehren."
Neben Addies Entwicklung erzählt "
Das unsichtbare Leben der Addie LaRue" auch in zweierlei Hinsicht eine tragische Liebesgeschichte. Zunächst ist
da Henry - ein sensibler, manisch-depressiver Buchhändler mit Künstlerseele,
welcher im Vergleich zu anderen Liebschaften und vor allem zum Schatten eher
blass bleibt, auch wenn er in einigen Kapiteln sogar selbst erzählen darf.
Zwischen Addie und Henry mag sich die Liebe nie so recht entfalten, obwohl
sich beide aufgrund ihrer wohltuenden Ruhepause von ihren Flüchen zueinander
hingezogen fühlen. Bis zum Ende wirken die beiden zwar zufrieden, gar
glücklich, aber mehr wie eine freundschaftliche Zweckgemeinschaft als ein
wirkliches Paar. Mit dem Schatten, dem Addie den Namen Luc gibt, ist es
genau umgekehrt. Mit ihm verbindet sie Leidenschaft, tiefe Gefühle und eine
jahrhundertlange Geschichte, ihre Beziehung ist aber vergiftet von ihrem
Katz-und-Mausspiel, sodass keiner jemals Ruhe im jeweils anderen finden
kann. Letzten Endes wird Addie durch beide Beziehungen geprägt, letztere ist
es aber, die die Spannung anheizt und die Handlung voranbringt. Das liegt
vor allem daran, dass der Schatten ein sehr interessant gestalteter
Charakter ist, der wirkt, als hätte sich die Autorin bis zum Schluss
nicht entscheiden können, ob der Schatten nun ein Monster oder ein Liebender
ist, oder ob das vielleicht dasselbe bedeuten kann...
"Luc blickt über die Schultern, lächelt fast und dreht sich nur so weit
zu ihr um, dass er ihr die Hand reichen kann. Sie stolpert aus der Zelle,
in die Freiheit, an seinen Körper. Und einen Moment lang ist da nur seine
Umarmung, und er ist massiv und warm, ein Wall gegen die Dunkelheit,
und es wäre einfach zu glauben, dass er real ist, ein Mensch ist und ihr
Zuhause. Aber dann klafft ein Riss in der Welt auf, und die Schatten
verschlingen sie."
Auch wenn die beiden Liebesgeschichten also gegensätzlich erscheinen, haben
sie drei Dinge gemeinsam. Erstens ist die Erotik sexy und stilvoll
umgesetzt, ohne dass explizite Szenen vorkommen würden. Zweitens gefällt mir
sehr gut, dass hier fast alle auftauchenden Figuren queer sind und auch die
sonstige Diversität sehr selbstverständlich erscheint (Sofia und ich haben
da ein bisschen drüber nachgedacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass
Geschlechterkategorien wohl keine Rolle mehr spielen, wenn man so lange lebt und
nicht Teil der Gesellschaft ist...). Und drittens ist bei beiden
Liebesgeschichten von Beginn an klar, dass sie kein gutes Ende nehmen
können. Ich habe beim Lesen lange überlegt, welches Ende es für Addie, Henry
und Luc geben kann, hatte Angst vor dem Ergebnis und wollte fast nicht beim
letzten Kapitel ankommen. Meine Sorge war jedoch unbegründet: was sich die
Autorin für den Abschluss ihrer Geschichte überlegt hat ist einfach PERFEKT!
Es ist kein Happy End im eigentlichen Sinne, aber auch nicht wirklich
Unhappy - einfach ein perfektes, ausgewogenes Chaos zwischen den beiden
Polen, welches auch vom Leben hätte geschrieben werden können!
Zum Abschluss noch mein Lieblingszitat (die übrigen tollen Zitate findet ihr gesammelt ganz am Ende der Rezension):
"Ihr Leben sei schwer und einsam gewesen, sagt sie, und trotzdem
wunderbar. Sie habe Kriege durchlebt und Revolutionen und Wiedergeburten.
Sie habe ihre Spur in zahllosen Kunstwerken hinterlassen, wie einen
Daumenabdruck auf dem Boden einer Schüssel. Sie habe Wunder erlebt, den
Verstand verloren, auf Schneewehen getanzt und sei am Ufer der Seine
erfroren. Sie habe sich viele Male in den Schatten verliebt, aber nur
einmal in einen Menschen. Und sie sei müde. Unsäglich müde. Aber ganz
zweifellos habe sie gelebt. "Nichts ist nur gut oder schlecht", sagt sie.
"Dazu ist das Leben viel zu kompliziert." Und dort in der Dunkelheit fragt
er sie, ob es das wirklich wert gewesen sei. Wogen die Momente des Glücks
die langen Phasen des Kummers auf? Wogen die Momente der Schönheit die
Jahre des Leidens auf? Und sie dreht den Kopf, sieht ihn an und antwortet:
"Immer."
Fazit
"Das unsichtbare Leben der Addie LaRue" ist eine ausdrucksstarke,
magische Geschichte von zeitloser Schönheit, welche vom atmosphärischen
Schreibstil V.E. Schwabs, einer starken Hauptfigur, zwei tragischen
Liebesgeschichten und interessanten Gedanken über den Wert eines Lebens, der
Liebe und der Kunst lebt. Absolutes Jahreshighlight!
Zitate:
"Weißt du, wie man 300 Jahre lebt? Genau so wie man eines lebt. Eine
Sekunde nach der anderen."
"Sag mir, was du dir am meisten wünschst." Sie schaut hoch. "Ich wünsche
mir eine Chance zu leben. Ich will frei sein." Sie denkt an die Jahre, die
vorbeigleiten. "Ich will mehr Zeit."
"Wenn die Nacht sich anschleicht, Violett in Schwarz über geht, schaut
Adeline in die Dunkelheit hoch und gewinnt den Verdacht, dass die
Finsternis sie ansieht, dieser Gott oder Dämon mit seinem grausamen Blick,
seinem spöttischen Lächeln, das sie so nie gezeichnet hat."
"Vergessen zu werden ist etwas sehr Einsames. Sich zu erinnern, wenn
niemand sonst es tut. "Ich erinnere mich", flüstert der Schatten, beinahe
freundlich, als sei nicht er derjenige, der sie verflucht hat."
"Ich erinnere mich." Drei Worte, groß genug, um die ganze Welt ins Wanken
zu bringen. "Ich erinnere mich."
"Für Männer ist es leichter." "Das stimmt", gibt er zu und nickt in
Richtung ihres Aufzugs. "Und dennoch", sagt er mit schelmischem Grinsen,
"du scheint mir eine Frau zu sein, die sich nicht so leicht einschränken
lässt. Aut viam inveniam aut faciam." Sie versteht noch kein Latein, und
er übersetzt nicht für sie, aber ein Jahrzehnt später wird sie die Worte
nachschlagen und ihre Bedeutung erfahren: Ich werde entweder einen Weg
finden oder einen machen. Und sie wird lächeln, ein Abglanz des Lächelns,
das er ihr heute Abend entlockt."
"Wenn du irgendwo leben könntest, wo es nur eine Jahreszeit gibt", fragt
Henry, "welche wäre das?" "Frühling", sagt sie, "wenn alles neu ist."
"Herbst", sagt er, "wenn alles vergeht."
"Eine Geschichte der Welt in 100 Gegenständen. Sie fragt sich, ob man das
Leben eines Menschen, geschweigedenn der menschlichen Zivilisation auf
eine Liste von Dingen reduzieren kann, fragt sich, ob sich damit
tatsächlich ein Wert bemessen lässt, nicht durch die Leben, die man
berührt, sondern durch die Dinge, die man hinterlässt. Sie versucht, ihre
eigene Liste zusammenzustellen. Eine Geschichte der Addie LaRue. Der Vogel
ihres Vaters, verloren zwischen den Leichen in Paris. Henriade, gestohlen
aus Remys Zimmer. Der Holzring. Aber diese Dinge haben ihre Spuren an ihr
hinterlassen. Wie steht es mit ihrem eigenen Vermächtnis? Ihr Gesicht, das
durch hundert Kunstwerke geistert. Ihre Melodien im Herzen von hundert
Liedern. Ideen, die Wurzeln schlagen, wild wuchern, die Samen
unsichtbar."
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