
Allgemeines
Titel: Das Ministerium der Zeit
Autorin: Kaliane Bradley
Verlag:
Penguin (23. April 2025)
Genre: Science-Fiction
ISBN: 9783641320522
Seitenzahl: 385 Seiten
Originaltitel: The Ministry of Time (übersetzt von Sophie Zeitz)
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Inhalt
Bewertung
„Das Ministerium der Zeit“ hat mich mit einem Happs verschlungen und wenige Stunden später gnadenlos wieder ausgespuckt. Ich weiß gar nicht so recht, was passiert ist – nur, dass ich das Buch über den gestrigen Tag wie in Trance gelesen habe und erst wieder aus der Hand legen konnte, als ich durch war. So gesehen hat Kaliane Bradleys Debütroman, der bereits beim Erscheinen der englischen Ausgabe im Frühjahr 2024 einen großen Hype ausgelöst hat, meine Erwartungen übertroffen. Es gehört definitiv zu jenen Romanen, bei denen man am Ende nicht ganz sicher ist, was man da gerade erlebt hat – aber ganz sicher weiß, dass es einen nicht so schnell loslassen wird.
Schon äußerlich macht der Roman neugierig: Das Cover mit seinen bunten, schwebenden 3D-Buchstaben auf dunkelblauem Grund ist sehr nah an der Gestaltung des Originalcovers gehalten und in seiner Schlichtheit dennoch ein Eye-Catcher. Auch die generelle Gestaltung der gebundenen Ausgabe möchte ich positiv hervorheben. Mit einem Lesebändchen, zwei in Silber aufgedruckten Zitate auf dem leuchtend roten Buchrücken unter dem Schutzumschlag sowie detailreiche Zeichnungen zur Franklin-Expedition auf den Vorsatzblättern zeugen von viel gestalterischer Sorgfalt. Abgerundet wird das Ganze durch das einzige erhaltene Foto von Graham Gore, das ebenfalls im Buch abgedruckt ist. Auch wenn ich eigentlich immer bevorzuge, mir selbst ein Bild der Figuren im Kopf zusammenzusetzen, ist dies ein feines Detail, das den Bogen von der realen Geschichte zur Fiktion schlägt.
Der Roman ist in zehn Kapiteln erzählt, die jeweils mit einem kurzen Abschnitt beginnen, der ins Jahr 1847 zur verschollenen Franklin-Expedition mitnimmt und erklärt, was Graham vor seiner Zeitreise in der Arktis zugestoßen ist. Im Haupthandlungsstrang beobachten wir über den Zeitraum eines Jahres eine namenlose Ich-Erzählerin, die als sogenannte "Brücke" den Zeitreisenden, Polarforscher und Offizier jener Franklin-Expedition Graham Gore, beim Ankommen im 21. Jahrhundert begleitet. Während sie ihn bei der Eingliederung ins moderne London betreut, verliebt sie sich langsam in ihn und beginnt, zugleich den Rätseln rund um das mysteriöse „Ministerium der Zeit“ nachzugehen, für das sie arbeitet. Während die Franklin-Expedition historisch verbürgt ist, ebenso wie die Figur Graham Gore, die es tatsächlich gegeben hat, ist das Ministerium der britischen Regierung sowie die Zeitreise-Idee natürlich eine Ausgeburt der Fantasie der Autorin. Auf diese Weise vermischt der Roman die historische Realität mit spekulativer Fiktion, und spinnt daraus eine Handlung mit Elementen aus Science-Fiction, Action-Abenteuer, Spionage-Thriller, romantischer Komödie und philosophischem Gedankenexperiment.
Im Zentrum dieses Genremix´ steht die Reise durch die Zeit, welche ich als Erzählelement immer sehr spannend, wenn auch komplex und mit viel Raum für Widersprüche finde. Die Autorin hält sich hier aber gar nicht mit technischen Erklärungen oder logischen Schlussfolgerungen auf, sondern gibt zu Grundidee, Setting, Handlung und historischem Hintergrund generell nur geradeso viele Informationen preis, damit wir LeserInnen der Geschichte geradeso noch folgen können. Das erzeugt einen Sog, ist aber auch nicht vollständig befriedigend zu lesen, da viele Fragen offen bleiben und besonders das Ende etwas verwirrt. Beeindruckend fand ich allerdings, dass das Zeitreise-Thema hier weniger als Science-Fiction-Gimmick, sondern in erster Linie als erzählerischer Katalysator für größere Themen verwendet wird. Neben unterhaltsamem Kultur-Clash, wenn über Toilettenspülungen, Flugzeuge oder die sexuelle Freizügigkeit des 21. Jahrhunderts gestaunt wird, flicht Kaliane Bradley viele clevere Gedanken zu Geschichte, Zeitgeist, Kontextualität und Zukunft mit ein und reflektiert über die prägende Wichtigkeit von Sprache, Generationstraumata, Klimawandel, kultureller Identität, Postkolonialismus, Rassismus und Einwanderung. Ohne auf jedes der Themen konkret einzugehen, setzt das Buch beinahe beiläufig sehr viele Impulse, über die man ins Grübeln verfällt.
Erzählt wird in dabei in kurzen, fragmentarischen Szenen aus der Sicht einer namenlosen Ich-Erzählerin. Die Erzählweise ist dabei sehr zerstückelt, springt in Zeitraffern, lebt von introspektiven Momenten und pointierten Dialogen. Passend dazu ist auch der Schreibstil der britisch-kambodschanischen Autorin vielschichtig und veränderungsfreudig. Mit originell zusammengesetzten Beschreibungen, kraftvollen Metaphern und assoziativen Bildern, die oft überraschen und lange nachhallen (z.B. "Marineblaue Nächte wickelten sich um die trüben und kürzer werdenden Tage wie ein Verband. Die Herbstluft war schon von den feinen Kapillaren des Winters durchzogen"), entfaltet sie eine starke emotionale Sogwirkung, die über viele Wechsel in Zeit, Ton und Tempo hinwegträgt. Auch die Atmosphäre der Geschichte changiert ständig: mal surreal und heiter, dann wieder melancholisch, romantisch oder düster. Diese Ambivalenz verstärkt das Gefühl, sich in einer Geschichte zu bewegen, die sich einer festen Verortung entzieht – sowohl genretechnisch, zeitlich, inhaltlich wie auch emotional. So entsteht beim Lesen ein ganz eigentümlicher Schwebezustand, von dem man süchtig wird und wie ich beinahe in Trance verfällt.
Trotz oder gerade wegen der unsteten Erzählweise gelingt es dem Roman außerdem, großartige Figuren zu zeichnen. Graham Gore ist ein durch und durch charmanter Charakter, der sich schnell und unaufdringlich ins Herz schleicht – nicht zuletzt durch die Art, wie die Erzählerin, seine Marotten und Eigenheiten beschreibt. Auch seine Vorgeschichte, die sich über das Buch hinweg Stück für Stück entfaltet, macht ihn zu einem interessanten Charakter. Die weibliche Hauptfigur und Erzählerin, entwickelt sich im Lauf der Handlung zu einer komplexen Figur, die man nicht vollständig durchschaut, aber gerne auf ihrem Weg begleitet. Obwohl wir ihren Namen nie erfahren und auch vieles andere wie ihre Ambitionen, ihre Ausbildung, ihre genaue Familiensituation sowie alle Informationen, die für die Handlung nicht direkt relevant sind, unausgesprochen bleiben, setzen sich die vielen kleinen Informationshappen zu einem Bild zusammen, sodass wir schlussendlich alles über sie wissen, was man wissen muss, um mit ihr mitzufiebern. Ganz so einen greifbaren Gesamteindruck wie Graham oder die Nebenfiguren hinterlässt sie allerdings nicht. Denn selbst kleinere Rollen wie Grahams Mitreisende Arthur (1916) und Margaret (1665) oder die Ministeriumsmitarbeiterin Adela werden mit großer Strahlkraft beschrieben, leuchten geradezu zwischen den Seiten hervor und sind kunstvoll in ihre Ursprungszeit eingebettet.
Das Ende lässt schließlich wie bereits erwähnt viele Fragen offen und macht es uns nicht gerade leicht, mit der Geschichte abzuschließen. Im Gesamtkonzept betrachtet wirkt dieses Ende aber nur konsequent, da es sich in einen Roman einreiht, der keine fertigen Antworten liefern will, sondern Denkprozesse anstößt. Wer sich auf diese eigenwillige, vielschichtige Erzählweise einlässt, wird belohnt mit einem Leseerlebnis, das weit über die letzte Seite hinaus nachwirkt. Ist dieses Buch ein Meisterwerk? Oder einfach nur merkwürdig? Vielleicht auf geniale und undefinierbare Art beides.
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