Sonntag, 29. Juni 2025

Kurzrezension: Lügen, die wir uns erzählen


Die Fakten

Titel: Lügen, die wir uns erzählen
Autorin: Anne Freytag
Verlag: Kampa (20. März 2024) 
Genre: Roman
Seitenzahl: 376 Seiten
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Der Inhalt

Helene ist siebenundvierzig, Mutter zweier Teenager, attraktiv und beruflich so erfolgreich, dass sie ihren Mann Georg in den Schatten stellt. Einer der Gründe, weshalb er Helene nach fast zwanzig Ehejahren für eine andere sitzen lässt. Doch schon zuvor lag vieles im Argen. Wann haben sie zuletzt wirklich miteinander gesprochen? Kannten sie sich überhaupt noch? Die Trennung zieht Helene den Boden unter den Füßen weg. Wer ist sie, die immer getrieben war von dem Wunsch, anderen zu gefallen, wirklich? Die gute Tochter, die zwischen ihren Eltern vermitteln musste;die Ehefrau, die am Bild der heilen Familie festhält;die überforderte Mutter, die ihre Arbeit vermisst;die erfolgreiche Karrierefrau mit dem schlechten Gewissen den Kindern gegenüber? Dem Leben schutzlos ausgeliefert, steht Helene plötzlich vor der großen Aufgabe, herauszufinden, was sie eigentlich vom Leben will, was ihre Bedürfnisse sind. Und während sie sich auf die Suche macht nach sich selbst, bricht lange Verdrängtes hervor. Gelingt es Helene endlich, sich frei zu machen von den Lügen, die sie sich erzählt hat?



Meine Eindrücke

Handlung: "Lügen, die wir uns erzählen" habe ich begonnen, direkt nachdem "Blaues Wunder" mir wieder einmal bestätigt hat, dass ich dringend mehr Bücher von Anne Freytag lesen muss. Leider konnte mich dieser Roman aber alles in allem nicht ganz so sehr überzeugen, wie ich mir das erhofft hatte. Das hängt vor allem mit der Erzählstruktur zusammen. Die Autorin erzählt aus der Perspektive der 47jährigen Helene, die nach der Trennung von ihrem Ehemann ihr Leben reflektiert und dafür wild durch die Zeit springt. Dabei wechseln sich die Gegenwart mit verschiedenen Stufen der Vergangenheit ab, die allerdings so wild vermischt werden, sodass es vor allem beim Hören des Hörbuches schwierig ist, am Ball zu bleiben und manches logisch nicht ganz zusammenpasst. Außerdem gibt es durch die vielen Sprünge leider viele Wiederholungen. Da man gefühlt alles dreimal erzählt bekommt, die wirklich wichtigen Informationen aber bis zum Ende ausgespart werden, zog sich das Buch trotz seiner knapp 400 Seiten gefühlt ewig in die Länge. Anders als bei ihren anderen Büchern, in denen zwar auch nicht gerade ein Handlungsfeuerwerk gezündet wurde, die Spannung aber trotzdem zwischen den Zeilen brodelt, ist hier der Funke nie richtig übergesprungen. Besonders im letzten Drittel hatte ich dann auf ein fulminantes Ende gehofft, das das Buch noch aus der gefühlten Mittelmäßigkeit reißt, doch leider empfand ich dieses als total weichgespült und unrund (Spoiler: Nicht nur dass handwerkliche Laien plötzlich eine Bauruine renoviert haben, Tochter einen plötzlichen Sinneswandel durchlebt, der Vater doch nicht homophob war, Helene gibt auch ihre hart erkämpfte Unabhängigkeit einfach so wieder auf und kehrt zu ihrem Mann zurück?!?!).

"Es ist beeindruckend, wie gut man sich in Kleidung und hinter Make-Up verstecken kann. Wie glücklich zwei unglückliche Menschen aussehen können. Wir hätten mich auch überzeugt - eine perfekte Lüge mit lächelnden Gesichtern."

Schreibstil: Trotz der für mich wenig packenden Handlung und des für mich nicht nachvollziehbaren Endes, hat "Lügen, die wir uns erzählen" zweifelsohne sehr starke Passagen und alles in allem auch etwas in mir ausgelöst. Wie soll es auch nicht, immerhin ist es ein Roman von Anne Freytag und dementsprechend voller kluger Beobachtungen, komplexer Emotionen und wichtiger Themen! Aber alles in allem hatte ich mir hier definitiv mehr erwartet, besonders nachdem bisher für mich alles, was sie geschrieben hat, direkt ins Schwarze getroffen hat. Denn mit Themen wie Ehe, Fehlgeburt, Kinderwunsch, Karriere, Lebensziele, Liebe, Rollenkonflikte, Beziehungen und Frausein in einer patriarchalen Gesellschaft werden ähnliche Themen und ein vergleichbarer Lebensabschnitt angesprochen wie in "Blaues Wunder", allerdings fehlte mir im Vergleich dazu der packende erzählerische Rahmen. 

"Und in dem Moment denke ich an mich auf diesem Sessel, und mir wird schlagartig klar, dass ich nicht mehr dieselbe Frau bin. Als wäre ich mir mit den Jahren unerkannt näher gekommen, als hätte ich Schicht für Schicht abgetragen. Damals jung und schön und sportlich, ein Gesicht ohne Falten, vom Leben nicht gezeichnet, aber auch nicht davon durchdrungen."

Figuren: So ist die Emotions- und Lebenswelt von Helene zwar großartig dargestellt, zu vielem fehlte mir allerdings der Zugang. Ob es nun daran liegt, dass ich in einer ganz anderen Lebensphase bin als Helene oder daran, dass sie immer wieder um sich selbst rotiert, nur um am Ende beinahe wieder am Ausgangspunkt anzukommen, kann ich gar nicht richtig sagen. Fest steht allerdings, dass ich trotz der 400 intensiven Seiten immer noch nicht ganz verstanden habe, was sie antreibt, was sie wirklich fühlt und wer sie sein möchte. Zwischendurch werden zusätzlich Passagen aus der Sicht ihrer 16jährigen Tochter Anna eingefügt, die zwar eine interessante Einsicht bieten, insgesamt aber eher von Helenes Geschichte ablenken. Wieso sich die Autorin dafür entschieden hat, Annas Perspektive mit einzubeziehen und nicht auch die ihres Sohnes Jonas, kann ich also nicht ganz nachvollziehen. Auch die Nebenfiguren blieben mir im Vergleich zu anderen Bücher der Autorin etwas zu blass und sind stark von der internalisierten Misogynie der Figur geprägt. Außer ihrer Tochter, der "anderen Frau" Mariam und ihrer toxischen Mutter spielt keine andere Frauenfigur eine wichtige Rolle, stattdessen dreht sich ihre ganze Welt um zwei mittelmäßig interessante Männerfiguren, Georg und Alex sowie ihren Bruder Henry. So verschenkt der Roman die Chance, eine kraftvolle feministische Erzählung über weibliche Selbstermächtigung und das Ringen um Identität in einem patriarchal geprägten System zu sein.

"Ich hätte diejenige sein sollen, die geht. Mich gegen ihn entscheiden und für mich. Wieso habe ich es nicht getan? Es gab so viele Tage mit so vielen Stunden, in denen ich ihn hätte verlassen können. Und jetzt ist er weg – so wie er eigentlich immer weg war. Nur dass es diesmal wehtut.

Fazit

"Lügen, die wir uns erzählen" ist ein solides, stellenweise berührendes Familien‑ und Selbstfindungsdrama, bei dem ich aber das unterschwellige Knistern und die Sogwirkung von Anne Freytags früheren Romane vermisst habe.


*keine WERBUNG, selbstgekauft*

Quelle Informationen: Goodreads.de. Klapptexte und Zitate sind Eigentum des Verlags oder jeweiligen Rechtinhabers.

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