Dienstag, 28. Oktober 2025

Die schönste Version


Allgemeines

Titel: Die schönste Version
Autorin: Ruth-Maria Thomas
Verlag: Rowohlt (16. Juli 2024)
Genre: Roman
Seitenzahl: 265 Seiten
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Inhalt

Die späten Nullerjahre, frühen 2010er Jahre in einer ostdeutschen Kleinstadt: Die schönste Version erzählt die Geschichte von Jella und Yannick, von der ersten großen Liebe, die alles richtig machen will. Bis es kippt. Wieder zurück in ihrem Kinderzimmer fragt Jella sich, wie es so weit kommen konnte. Sie schaut noch einmal genauer auf ihr Aufwachsen in der Lausitz. Kleinstadt und Kiesgruben, Gangsterrap und Glitzerlipgloss. Auf Freundinnen, die sie durch so vieles trugen. Und auf den Moment, in dem Yannicks Hände sich um ihren Hals schlossen.



Bewertung

Angepriesen als moderner Klassiker war ich gespannt, was der im vergangenen Jahr erschienene Debütroman von Ruth-Maria Thomas zum aktuellen Diskurs rund um toxische Beziehungen beizutragen hatte. Nach dem Hören ist für mich klar: "Die schönste Version" ist ein kurzer, schmerzhafter, intensiver Roman, der mehr fordert als gibt, der beschäftigt und mit vielen gemischten Gefühlen und Gedanken zurücklässt...

Denn auch wenn die Geschichte auf den ersten Blick wie ein Roman über häusliche Gewalt beginnt – eine junge Frau, Jella, wurde von ihrem Freund gewürgt und sitzt nun bei einem wenig enthusiastischen Polizeibeamten, um eine Anzeige aufzugeben–, wird sehr schnell klar: Darum geht es eigentlich nicht. Das Buch erzählt nicht primär eine Liebes- oder Trennungsgeschichte, vielmehr geht es für mich in diesem Buch um das Frausein im Patriarchat und genauer gesagt das Aufwachsen als Mädchen in den späten Nullerjahren. Um subtile Verletzungen, internalisierte Scham, strukturelle Gewalt, die nicht erst in Beziehungen beginnt, sondern schon viel früher, viel tiefer.

"In der Sekunde in der mein Kopf unter Wasser ist, ist mir klar, dass es nicht geht. Das es wirklich nicht in Ordnung ist, das meine Mutter mich in ihrem Bauch getragen hat und dann ein Mann kommt und seine Hände an meinen Hals legt, als wäre es sein Recht. Als hätte er irgendeine Befugnis über mein Leben zu bestimmen."

Um dieses "Früher" abzubilden, springt der Roman immer wieder in Jellas Kindheit und Jugend. Durch den Wechsel zwischen Jetzt und Früher wird anachronisch das Bild rund um Jella und Yannik vervollständigt. Besonders spannend ist an dieser Erzählweise, dass was zunächst eindeutig scheint – er Täter, sie Opfer – im Laufe des Buches zunehmend verschwimmt. Auf 265 Seiten begleiten wir eine junge Frau dabei, wie sie sich über Jahre hinweg selbst verliert, wie sie versucht, sich eine Identität zu bauen, die sie zugleich schützt und verrät. Wie die Gewalt, die ihr angetan wurde, sei sie offen, subtil, brutal oder gesellschaftlich eingeübt, Spuren hinterlässt in Sprache, Körper, Beziehung, Wahrnehmung. Denn das Erschreckende an der Geschichte: jede einzelne männliche Figur in diesem Buch begeht an Jella irgendeine Form von Gewalt. Seien es Mikroaggressionen, Gaslighting, Übergriffe und fehlender Consent und Sexualisierung auf persönlicher Ebene oder der Male Gaze, die Schönheitsideale des Patriarchats, die misogyne Popkultur der 2000ern und struktureller Sexismus in allen gesellschaftlichen Instanzen - wir sehen, wie all die Erfahrungen, die Jella machen musste, in ihr eine tiefe Unsicherheit sähen und schlussendlich zu beidseitig ungesundem Beziehungsverhalten führen. 

"Es war ein bisschen anstrengend zu lesen, alte Sprache und sehr umständlich, aber das Mädchen, das dort auf die Reise ging, hatte die gleichen Gefühle, Ängste und Träume wie die Mädchen in den pinken Herzbüchern, auch wenn sie diese in langen verschachtelten Sätzen dachte. Es erstaunte mich: fast hundert Jahre Abstand und doch alles gleich"

Genau dass Jella dabei kein rein unschuldiges Opfer ist, sondern aufgrund ihrer Prägung selbst zur Täterin wird, macht die Geschichte interessant. So verfolgen wir mit ihr eine komplexe Ich-Erzählerin, in der man sich in Teilen wiedererkennt, von der man sich beim Lesen aber auch immer wieder aktiv distanzieren muss. Ich habe das Buch mit der seltsamen Mischung aus Erkennen, Erschrecken und Erleichterung gelesen: Erkennen, weil mir vieles aus Erzählungen und eigenen Beobachtungen vertraut vorkam; Erschrecken, weil mein jugendliches Ich wohl in ähnliche Fallen getappt wäre wie Jella, wenn ich in einem weniger behüteten Umfeld aufgewachsen wäre; und Erleichterung darüber, dass mein Erwachsenes Ich heute jede einzelne Red Flag sofort wahrgenommen hat. Man spürt auf jeder Seite, dass wir als Gesellschaft zwar noch längst nicht dort sind, wo wir sein müssten – aber schon weit entfernt von den Mechanismen, die diese Geschichte präzise seziert. An solchen Romanen merkt man, wie sehr sich das gesellschaftliche Bewusstsein für Misogynie, Sexismus, patriarchale Gewalt und toxische Beziehungen in den letzten 10 Jahren verändert hat und dass wir langsam auf dem richtigen Weg sind. 

"Was weiß ich denn, mein Vater klingt hilflos. Zu so was gehören doch aber immer zwei. Ich halte den Atem an. Auf einmal ist alles sehr still in mir. Mein Handy vibriert wieder, und als ich die SMS von Yannick öffne und da steht "ich mache mir solche sorgen, bitte melde dich. y" ist da keine Wut, kein Widerstand mehr."

Was ich an dem Roman allerdings eher kritisch sehe, ist der generelle Erzählton. Die erfahrene Gewalt und der ungesunde Bezug zur eigenen Sexualität der Protagonistin schlägt sich leider in sehr vulgärer, derber Sprache mit vielen Hypersexualisierungen nieder. Das ist eine stilistische Entscheidung, die zwar nachvollziehbar ist, die ich für dieses Buch aber nicht unbedingt befürworten kann. Gepaart mit dem Fehler von Content Notes für die Themen Sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung und Missbrauch, verlangt der Roman den LeserInnen wirklich sehr viel ab und gibt sich nicht sehr viel Mühe, sie vor negativen Emotionen zu schützen. Ich würde dieses Buch dementsprechend nur emotional stabilen LeserInnen empfehlen, die sich auch wirklich auf diese Themen und den sprachlichen Umgang damit einlassen wollen und können. 

"Und als Yannick dann sagte, ja, okay, wer läuft auch nachts so draußen rum…Da wurde mir wie Winter mit Dunkel und Kälte, und ich bekam Schweißperlen im Nacken, dachte seit langer Zeit an dieses eine Weihnachten zurück, mein Paillettenkleid war damals sehr kurz."

Dementsprechend handelt es sich hierbei nicht um geführte Komfortliteratur, sondern eher um ein literarisches Brennglas auf eine Generation, in der man wiedererkennen kann, was man möchte. Die Autorin beschreibt keine Ursachen, sondern zeigt nur Symptomatiken, legt Strukturen bloß und überlässt uns LeserInnen die Arbeit der Einordnung. Dabei bleibt leider vieles unausgesprochen und ungelöst. Eines der vielen angeschnittenen Themen, auf die die Geschichte keine Zeit oder Raum findet, genauer einzugehen, sind die Nachwirkungen der Wende und die Überbleibsel der DDR im Osten Deutschlands. Auch andere Motive wie Jellas angedeutetes Queer Awakening, die Beziehung zu ihren Freundinnen oder ihr Konflikt mit ihrer Mutter bleiben am Ende ungelöst, auch wenn die Autorin mit einem vorsichtig versöhnlichen Ausblick endet.

Fazit

„Die schönste Version“ ist ein stilistisch kompromissloser und emotional herausfordernder Debütroman, der nicht tröstet, sondern konfrontiert – mit patriarchaler Gewalt in all ihren Formen, aber auch mit den blinden Flecken eines gesellschaftlichen Bewusstseins im Wandel. Keine leichte, aber eine wichtige Lektüre – unbequem, notwendig, literarisch eindringlich.

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Quelle Informationen: Goodreads.de. Klapptexte und Zitate sind Eigentum des Verlags oder jeweiligen Rechtinhabers.

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