Allgemeines
Titel: Die schönste Version
Autorin: Ruth-Maria Thomas
Verlag:
Rowohlt (16. Juli 2024)
Genre: Roman
Seitenzahl: 265 Seiten
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Inhalt
Bewertung
Angepriesen als moderner Klassiker war ich gespannt, was der im vergangenen Jahr erschienene Debütroman von Ruth-Maria Thomas zum aktuellen Diskurs rund um toxische Beziehungen beizutragen hatte. Nach dem Hören ist für mich klar: "Die schönste Version" ist ein kurzer, schmerzhafter, intensiver Roman, der mehr fordert als gibt, der beschäftigt und mit vielen gemischten Gefühlen und Gedanken zurücklässt...
Denn auch wenn die Geschichte auf den ersten Blick wie ein Roman über häusliche Gewalt beginnt – eine junge Frau, Jella, wurde von ihrem Freund gewürgt und sitzt nun bei einem wenig enthusiastischen Polizeibeamten, um eine Anzeige aufzugeben–, wird sehr schnell klar: Darum geht es eigentlich nicht. Das Buch erzählt nicht primär eine Liebes- oder Trennungsgeschichte, vielmehr geht es für mich in diesem Buch um das Frausein im Patriarchat und genauer gesagt das Aufwachsen als Mädchen in den späten Nullerjahren. Um subtile Verletzungen, internalisierte Scham, strukturelle Gewalt, die nicht erst in Beziehungen beginnt, sondern schon viel früher, viel tiefer.
Um dieses "Früher" abzubilden, springt der Roman immer wieder in Jellas Kindheit und Jugend. Durch den Wechsel zwischen Jetzt und Früher wird anachronisch das Bild rund um Jella und Yannik vervollständigt. Besonders spannend ist an dieser Erzählweise, dass was zunächst eindeutig scheint – er Täter, sie Opfer – im Laufe des Buches zunehmend verschwimmt. Auf 265 Seiten begleiten wir eine junge Frau dabei, wie sie sich über Jahre hinweg selbst verliert, wie sie versucht, sich eine Identität zu bauen, die sie zugleich schützt und verrät. Wie die Gewalt, die ihr angetan wurde, sei sie offen, subtil, brutal oder gesellschaftlich eingeübt, Spuren hinterlässt in Sprache, Körper, Beziehung, Wahrnehmung. Denn das Erschreckende an der Geschichte: jede einzelne männliche Figur in diesem Buch begeht an Jella irgendeine Form von Gewalt. Seien es Mikroaggressionen, Gaslighting, Übergriffe und fehlender Consent und Sexualisierung auf persönlicher Ebene oder der Male Gaze, die Schönheitsideale des Patriarchats, die misogyne Popkultur der 2000ern und struktureller Sexismus in allen gesellschaftlichen Instanzen - wir sehen, wie all die Erfahrungen, die Jella machen musste, in ihr eine tiefe Unsicherheit sähen und schlussendlich zu beidseitig ungesundem Beziehungsverhalten führen.
Genau dass Jella dabei kein rein unschuldiges Opfer ist, sondern aufgrund ihrer Prägung selbst zur Täterin wird, macht die Geschichte interessant. So verfolgen wir mit ihr eine komplexe Ich-Erzählerin, in der man sich in Teilen wiedererkennt, von der man sich beim Lesen aber auch immer wieder aktiv distanzieren muss. Ich habe das Buch mit der seltsamen Mischung aus Erkennen, Erschrecken und Erleichterung gelesen: Erkennen, weil mir vieles aus Erzählungen und eigenen Beobachtungen vertraut vorkam; Erschrecken, weil mein jugendliches Ich wohl in ähnliche Fallen getappt wäre wie Jella, wenn ich in einem weniger behüteten Umfeld aufgewachsen wäre; und Erleichterung darüber, dass mein Erwachsenes Ich heute jede einzelne Red Flag sofort wahrgenommen hat. Man spürt auf jeder Seite, dass wir als Gesellschaft zwar noch längst nicht dort sind, wo wir sein müssten – aber schon weit entfernt von den Mechanismen, die diese Geschichte präzise seziert. An solchen Romanen merkt man, wie sehr sich das gesellschaftliche Bewusstsein für Misogynie, Sexismus, patriarchale Gewalt und toxische Beziehungen in den letzten 10 Jahren verändert hat und dass wir langsam auf dem richtigen Weg sind.
Was ich an dem Roman allerdings eher kritisch sehe, ist der generelle Erzählton. Die erfahrene Gewalt und der ungesunde Bezug zur eigenen Sexualität der Protagonistin schlägt sich leider in sehr vulgärer, derber Sprache mit vielen Hypersexualisierungen nieder. Das ist eine stilistische Entscheidung, die zwar nachvollziehbar ist, die ich für dieses Buch aber nicht unbedingt befürworten kann. Gepaart mit dem Fehler von Content Notes für die Themen Sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung und Missbrauch, verlangt der Roman den LeserInnen wirklich sehr viel ab und gibt sich nicht sehr viel Mühe, sie vor negativen Emotionen zu schützen. Ich würde dieses Buch dementsprechend nur emotional stabilen LeserInnen empfehlen, die sich auch wirklich auf diese Themen und den sprachlichen Umgang damit einlassen wollen und können.
Dementsprechend handelt es sich hierbei nicht um geführte Komfortliteratur, sondern eher um ein literarisches Brennglas auf eine Generation, in der man wiedererkennen kann, was man möchte. Die Autorin beschreibt keine Ursachen, sondern zeigt nur Symptomatiken, legt Strukturen bloß und überlässt uns LeserInnen die Arbeit der Einordnung. Dabei bleibt leider vieles unausgesprochen und ungelöst. Eines der vielen angeschnittenen Themen, auf die die Geschichte keine Zeit oder Raum findet, genauer einzugehen, sind die Nachwirkungen der Wende und die Überbleibsel der DDR im Osten Deutschlands. Auch andere Motive wie Jellas angedeutetes Queer Awakening, die Beziehung zu ihren Freundinnen oder ihr Konflikt mit ihrer Mutter bleiben am Ende ungelöst, auch wenn die Autorin mit einem vorsichtig versöhnlichen Ausblick endet.
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