Montag, 21. Juni 2021

Montagsfrage #211 - 21.06.2021

Hallöchen

diese Woche ist jetzt die letzte einigermaßen entspannte, bevor dann der übliche Semesterendspurt mit Seminararbeiten, Prüfungsvorbereitung und Hausarbeiten beginnt. Außerdem winkt am Samstag auch noch mein Geburtstag und die Temperaturen haben endlich wieder ein verträgliches Maß erreicht - ich steige also mit recht guter Laune in die neue Woche ein. Die heutige Montagsfrage kommt von Nerd mit Nadel


Hört ihr Stimmen oder seht ihr Bilder beim Lesen?

Was für eine spannende Frage, zu der mir sofort tausend psychologische Theorien in den Kopf schießen. Erst vor kurzem habe ich an einer Masterarbeitsstudie meines Psychologie Instituts teilgenommen, die genau dieses Thema untersuchte und habe mir im Zuge der Untersuchung eine Menge Gedanken darüber gemacht. Ich gebe mein Bestes, Euch jetzt nicht mit zu viel theoretischem Input zu langweilen und fasse mich kurz - vielleicht ist das ein oder andere über Aphantasie, internalisierten Lesestimmen und deren Zusammenhang mit Lesespaß und Lesetempo ganz interessant für Euch....😁

Zum Beispiel geht man davon aus, dass man im Lernprozess des Lesens zuerst die gehörte Vorlesestimmer einer anderen Person nachmacht und selbst laut vorliest und die verbale Lesestimme dann mit zunehmender Übung einer rein mentalen weicht. Dieser Prozess der Verinnerlichung nennt man Internalisierung. Ob man nun diese innere Stimme beim Lesen hört, oder ob der Sinn des Gelesenen sich ohne auditive Repräsentation im Inneren einfach ergibt, scheint individuell zu sein und von verschiedenen Faktoren wie Interesse, kognitive Kapazität etc. abzuhängen, das ist aber noch nicht gut empirisch untersucht. 

Was mich persönlich angeht habe ich keine innere Lesestimme, sobald ich ganz in einem Roman versinke - dann ergibt sich der Sinn der Wörter einfach und ich habe keine innere Vorleseinstanz mehr, die mich vom aktuellen Geschehen trennt. Lese ich jedoch einen etwas komplizierteren Fachtext, oder muss ich mich bewusst darauf konzentrieren, nicht abzuschweifen, übernimmt meine innere Stimme und liest mir das Gelesene vor. In ganz seltenen Fällen, in denen ich durch Hintergrundgeräusch so abgelenkt bin, dass ich denselben Satz wieder und wieder lese, ohne dass irgendetwas vom Inhalt bei mir ankommen würde, lese ich sogar einen Satz mal laut vor, um wieder in den Lesefluss zu finden. Das ist ein ganz typischer Befund, den in Untersuchungen auch Kinder oft anwenden, wenn sie nicht weiterkommen. Dabei bin ich ohne "innere Vorlesestimme" weitaus schneller unterwegs, als mit und in Speed-Reading-Seminaren bekommt man diese häufig "abtrainiert". Das bedeutet aber keineswegs, dass eine innere Stimme etwas Schlechtes sein muss - das kann auch den Vorgang des Lesens bereichern. Ich habe sogar auch von Personen gehört, die mehrere solcher Lesestimmen haben und sich bei Geschichten also ein ganzes internes Hörbuch entwickelt. Nur wenn man auch außerhalb von Imaginationsprozessen Stimmen hört, sollte man mal zum Arzt gehen 😆

Was die inneren Bilder angeht, will ich noch ganz kurz auf die beiden Begriffe Aphantasie und Hyperphantasie hinweisen. Das eine meint das Fehlen eines visuellen mentalen Vorstellungsvermögen (egal ob beim Lesen, beim Vorstellen des eigenen Gesichts, oder bei der Visualisierung eines Gegenstandes), das andere ein besonders starker Fokus auf visuelle Vorstellung bei verschiedenen Tätigkeiten (z.B. Träumen, Lesen, Abrufen von Gelerntem oder Erinnerungen). Zwischen den beiden Extrem-Phänomenen liegt jedoch ein ganz breites Spektrum, in das wir vermutlich alle einzuordnen sind. 

Ich zum Beispiel habe ein wahnsinnig großes Problem, mir Gesichter bildlich vorzustellen (auch mein eigenes, oder das meiner Familie und schon gar nicht das fiktiver Personen). Mein Gedächtnis wiederum ist aber sehr visuell eingestellt - so rufe ich mir zum Beispiel meine Lernblätter bildlich ins Gedächtnis, um mich an Lerninhalte zu erinnern. Auf das Lesen bezogen bedeutet das für mich, dass ich mit Geschichten bestimmte Einzelbilder und Impressionen verbinde, also mentale Schnappschüsse, mit denen ich mich an die Handlung erinnere (habe ich den Film zum Buch gesehen, geraten meine eigenen Bilder und die des Filmes häufig durcheinander). Diese mentalen Schnappschüsse kommen ab und zu beim Lesen einer Szene auf und schießen mir ohne willentliche Vorstellung ins Gedächtnis. Je schneller ich lese, desto kleiner sind die Details, je mehr ich mich aktiv auf die Beschreibungen einlasse, desto mehr zusammenhängende Bilder sehe ich auch. Zu einem ganzen Film, dem altbekannten "Kopfkino" wird eine Geschichte in meinem Kopf aber nie. Als Beispiel: Wenn im Buch beschrieben wird, wie die Hauptperson auf ein Schloss zureitet, welches die Farbe x hat, soundsoviele Türme und aus jenem Material erbaut ist, sehe ich vielleicht einzelne Details wie ein Turm, vor meinem inneren Auge aufblitzen, aber niemals die ganze Szene als Totale. 

Ebenfalls interessant ist, dass meine mentalen Bilder und Vorstellungen häufig auf Bekanntem aufbauen. Das geschieht vor allem, wenn Beschreibungen fehlen, oder Orte, oder Personen (noch) nicht näher spezifiziert wurden. Wird in einem Buch eine Schulcafeteria genannt, aber nicht näher beschrieben, sitzen die Figuren in meinem Kopf häufig in einem Gebäude, das meiner ehemaligen Schulmensa ähnelt. Wird das Aussehen von Nebenfiguren nicht genau festgelegt, sind sie automatisch mir ähnlich (z.B. weiße Hautfarbe, eher klein, dunkle Haare ...). Problematisch wird das, wenn dann zu einem späteren Zeitpunkt eine neue Information kommt (z.B. "Anna schüttelte ihre roten Haare und rückte ihre Brille zurecht"), die widersprüchlich zu meiner bisherigen Vorstellung war und sich nicht mehr integrieren lässt. Manchmal bleiben Figuren oder Orte auch komplett abstrakt und ohne Bild, wenn ich durch eine spannende Handlung abgelenkt oder durch öde Beschreibungen nicht zu einem Imaginationsprozess inspiriert wurde.

Sehr spannend wird das, wenn man mal darüber nachdenkt, was diese individuelle Leseerfahrung für das Erleben von Büchern und Genrevorlieben bedeutet. Wie empfindet jemand mit geringem Vorstellungsvermögen ein Tolkien-Buch, das zu 50% aus Landschaftsbeschreibungen besteht? Liegt es vielleicht daran, wenn man schnell gelangweilt ist? Was passiert mit der inneren Stimme beim Lesen von fremdsprachigen Büchern?

Wie Ihr seht, finde ich das Thema unfassbar spannend und könnte noch seitenweise über Theorie, oder mein eigenes Empfinden schreiben. Da ich aber versprochen hatte, mich kurz zu fassen (bin wohl gescheitert), belasse ich es dabei und bin nun sehr gespannt, wie ihr das Lesen erlebt!

Wie ist das bei Euch?

Liebe Grüße
Sophia

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8 Kommentare:

  1. Hallo Sophia,
    wow, da hast du ja auch sehr interessante Sichtweisen auf die Frage vorgebracht. Ich habe den Eindruck, dass jeder etwas anderes aus einem Buch mitnimmt. Und vielleicht sehen wir andere Landschaften und Figuren vor uns. Als Autor kann man das nur bis zu einem gewissen Punkt steuern :-)
    Voll spannend! Ich verlinke deinen Post gleich mal in meinem.
    Viele liebe Grüße,
    Tala

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    1. Hey Tala,

      Es freut mich, dass du meinen kleinen psychologischen Ausflug spannend findest 😍! Genau, man kann nicht oft genug betonen, wie individuell das Lesen und auch die Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung von Geschichten ist. Innerhalb eines kulturellen Umfelds oder einer Sozialschicht gelten ja schon gemeinsame Normen und Werte und klar können AutorInnen an ganze essentiellen Stellschrauben in gewisser Weise die Wirkung einer Geschichte steuern (Sympathie für eine Hauptperson, Atmosphärenwahrnehmung), aber damit wird man nie alle Menschen auf dieselbe Art erreichen. Ich finde es mega spannend, darüber nachzudenken!

      Danke übrigens für die Verlinkung!

      Liebe Grüße
      Sophia

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  2. Hallo,
    da du das Thema auch schon so schön wissenschaftlich aufgearbeitet hast, würde mich nun interessieren, ob du vielleicht sogar die Antwort kennst zu einer Frage, die ich schon aus einem anderen Beitrag mitgenommen habe. Kann ein Aphantasie ein guter Regisseur sein oder ist dies nur möglich, für jemanden, der schon Bilder im Kopf erzeugt beim Lesen?
    Viele Grüße
    Ariane

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    1. Hey Ariane,

      erstmal vielen Dank für die spannende Frage - ich hatte eine Menge Spaß beim Beantworten!
      Ich freue mich auch total, dass du meinen kurzen Exkurs nicht langweilig fandest, ich bin da als gerne etwas übereifrig, was Themen aus meinem Studium angeht und nerve auch gerne mal mein Umfeld mit neuen (vermeintlich spannenden) Erkenntnissen 😂.

      Was deine Frage angeht: ich denke, dass Aphantasten so ziemlich alles können, was der Durchschnittsmensch auch kann - nur eben mit anderen individuellen Herangehensweisen und vielleicht auch mit einem etwas anderen Ergebnis. Wenn man sich zum Beispiel beim Lesen nicht das Gesicht einer Figur vorstellen kann, kann man ja trotzdem reale Fotos von z.B. Schauspielern anschauen und einschätzen, ob das jetzt gut passt, oder weniger gut. Man hat ja trotzdem abstrakte Vorstellungen der Person beim Lesen aufgebaut, die die wichtigsten von den AutorInnen eingebrachten Infos (z.B. groß, dunkelhaarig, grüne Augen, Narbe über dem linken Auge etc.) beinhalten. Nur hat man eben nicht sofort das passende Bild dazu generiert. Als Regisseur müsste man dann von diesen abstrakten Repräsentationen ausgehen und nicht von den visuellen Vorstellungen aus entscheiden. Gleiches würde für eine ganze Szenengestaltung gelten. Eine Choreografie könnte man ja auch "live" mit Personen, oder auf dem Papier ausprobieren, nachbilden und schauen, was passt. Was andere Personen sich im Kopf vorstellen und zusammenreimen, könnte man durch Zeichnungen oder Arrangements "in echt" beurteilen. Man muss also einfach den inneren Vorstellungsprozess nach außen verlagern und kann da ruhig kreativ werden. Vielleicht schafft diese Herangehensweise sogar nochmal andere Möglichkeiten als bei Personen, die sich sofort von ihren inneren Vorstellungen leiten lassen...?
      Ich weiß nicht, ob dir das etwas geholfen hat - ich bin auch keine Expertin auf dem Gebiet. Wenn nicht, stelle gerne nochmal eine Nachfrage 😅.

      Liebe Grüße
      Sophia

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    2. Hallo Sophia,

      die Sache mit der Lesewahrnehmung hat ja ursprünglich mal Sandra von Booknapping.de angestoßen, die selbst Aphantastin ist. Dazu habe ich einen Mann, der vermutlich auch Aphantast ist und für den ich meine Ideen immer visualisieren muss, da er sich meine Beschreibungen nicht vorstellen kann (er hat übrigens definitiv keine Vorlesestimme).
      Da finde ich Visualisierung nochmal viel spannender und vielleicht ist es tatsächlich auch manchmal eine Bürde, wenn eine Umsetzung nicht so klappt wie in der Vorstellung und Aphantasten habe sogar dabei einen Vorteil.

      Viele Grüße
      Ariane

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    3. Hey Ariane,

      ah, das habe ich gar nicht gewusst, dann schaue ich mal beim Ursprungsbeitrag von Sandra vorbei 😊. Wie spannend - mich interessieren die Unterschiede in der Wahrnehmung der Welt und in inneren Vorgänge zwischen Menschen wahnsinnig (sonst hätte ich wohl nicht Psychologie studiert, haha)! Ja, ich würde die Kategorie "Aphantast" auch nicht unbedingt negativ begreifen.

      Liebe Grüße
      Sophia

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  3. Hallo Sophia,

    da hast du eine wirklich interessante Sichtweise auf die aktuelle Montagsfrage. Ich finde den psychologischen Teil deiner Antwort sehr interessant. Ich selber habe über diesen Prozess beim Lesen nie bewusst darüber nachgedacht, bis heute.

    Lieben Gruß
    Nico :)

    P.S.: Hier meine Antwort auf die aktuelle Montagsfrage:
    https://qwertzgelesen-buchblog.blogspot.com/2021/06/die-montagsfrage-hort-ihr-stimmen-oder.html

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    1. Hey Nico,

      haha, es erleichtert mich gerade, dass Ihr es spannend zu finden scheint, was ich da so geschrieben habe. Normalerweise versuche ich immer, nicht zu viel zu klugscheißen, aber bei dem Thema hat sich ein kleiner theoretischer Exkurs echt angeboten.
      Dann schaue ich gleich mal bei deiner Antwort vorbei...

      Liebe Grüße
      Sophia

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