Freitag, 21. Februar 2025

22 Bahnen


Allgemeines

Titel: 22 Bahnen
Autor: Caroline Wahl
Verlag: Dumont (18. April 2023)
Genre: Roman
ISBN: 9783832182786
Seitenzahl: 208 Seiten
Weitere Bände: Windstärke 17 (Band 2)
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Inhalt

Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstrasse in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der grosse Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der genau wie sie immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends ausser Kontrolle. 22 Bahnen ist eine raue und gleichzeitig zärtliche Geschichte über die Verheerungen des Familienlebens und darüber, wie das Glück zu finden ist zwischen Verantwortung und Freiheit.


Bewertung

"22 Bahnen" sowie sein Nachfolger "Windstärke 17" waren letztes Jahr wirklich ÜBERALL. Als Debüt eines aufsteigenden Sterns der deutschen Literatur von den einen, als bittersüßes Sommerbuch von den anderen gefeiert, war ich neugierig, was das kurze Büchlein bereithält und habe es in den letzten Tagen als Hörbuch gehört. Nach 6 Hörstunden kann ich mich dem Hype allerdings nicht anschließen...

Thematisch ist "22 Bahnen" ein grundsätzlich interessantes Buch über Co-Abhängigkeit, prekäre Verhältnissen und einer Jugend zwischen Aufbruch und Nostalgie, Verantwortung und Freiheit, Zukunft und Vergangenheit. Auf der Handlungsebene passiert allerdings gar nicht viel und vieles wiederholt sich: das tägliche Schwimmen, das Arbeiten im Supermarkt, die Gespräche mit Ida und Gedanken an den Sommer vor fünf Jahren, als Iwan starb. So ist die Handlung so träge wie die Sommerhitze, in der er spielt und nur aufgrund der Kürze des Buches kommen keine Längen auf. Dabei versteht es die Autorin gerade durch die Wiederholungen sehr gut, ein lebendiges Bild von den Lebensumständen, dem Alltag und der gefühlten Perspektivlosigkeit der Hauptfigur zu zeichnen. 

Was allerdings irritiert und diese Illusion, im Leben der Figur aufzugehen, immer wieder gestört hat, sind die stellenweise klischeehaften und unrealistischen Darstellungen von Armut, Sucht und Depression. So werden nur Fast-Food und Gut-und-Günstig Produkte gegessen, auf den Suizidversuch der Mutter reagiert niemand, die Hausärztin verschreibt Antidepressiva ohne Fragen zu stellen und trotz offensichtlicher Misshandlungen ist das Jugendamt ein Fremdwort. Außerdem sind beide Töchter trotz Vernachlässigung offensichtlich hochbegabt und für eine 4-Zimmer-Wohnung, Schwimmbadbesuche, Markenprodukte und Alkohol scheint immer genug Geld dazu sein. Diese Aspekte haben es mir schwer gemacht, die Geschichte ganz ernst zu nehmen und mich wirklich darauf einzulassen.

"Hafermilch, Mandelmilch, Cashewmuß, tiefgefrorene Himbeeren, Hummus, Kölln Haferflocken, Chiasamen, Bananen, Dinkelnudeln, Avocado, Avocado, Avocado. Ich spiele: Ich darf nicht hochschauen. Circa 30, männlich, schlaksig, rahmenlose Brille, Levi's Shirt, rate ich, sage "30,72 Euro", schaue endlich hoch, und als ich den Levi's-Schriftzug sehe, ist das ziemlich cool und vielleicht sogar der bisherige Höhepunkt meines Tages."

Auch der Schreibstil hat definitiv seinen Reiz und erklärt für mich auch einen großen Teil des Erfolgs des Buches. Mit dem sehr nüchternen, fast telegrafischen Stil mit vielen Auflistungen und wie im Drehbuch aneinandergereihten Dialogen (die im Hörbuch leider ein wenig anstrengend sind) wirkt Caroline Wahls Schreibstil neu, frisch und passt hervorragend zur sparsamen Handlung und der verschlossenen Hauptfigur. Die einzige sprachliche Opulenz zeigt sich interessanterweise in der Beschreibung von Natur und Wetter, die eine bittersüße Melancholie in den Text bringen und eigene Erinnerungen an ziellose Sommer im Freibad zum Leben erwecken. Hingegen wirklich verzichten könnte ich auf die unnötig eingebauten rassistischen Bezeichnungen für Inuit und osteuropäische Menschen, die nichts zur Geschichte beitragen und in dem ansonsten sehr modernen Buch deplatziert wirken.

Passend zum Schreibstil bleibt auch die Hauptfigur Tilda emotional sehr distanziert. Auch wenn es vorrangig um ihre Emotionen geht, kommt beim Lesen nur sehr wenig an - bis eben die abgestumpfte Emotionslosigkeit, die sie sich als Antwort auf ihre schwierigen Lebensumstände antrainiert hat. Eben diese konnte ich aber nur schwer ertragen. Während dem Lesen hätte ich sie häufig gerne geschüttelt und gefragt, warum sie nichts fühlt, warum sie nichts sagt, warum sie nichts tut!!! Das ist zwar ein sehr interessanter Ansatz, für mich war aber vieles schwer greifbar und nachvollziehbar und dadurch erhält "22 Bahnen" deutlich weniger emotionale Wucht, als es hätte haben können. Denn von der Selbstermächtigung, die ich mir nach dem Klapptext und dem Einstieg erhofft hatte, ist nur wenig zu spüren. Tilda und Ida sind am Ende des Buches nur unwesentlich weiter als zu Beginn. Und was sich geändert hat, lässt sich eigentlich auch vor allem auf die Liebesgeschichte zurückführen, die Tilda einen Ausweg in Form eines Ritters in strahlender Rüstung anbietet. Sorry, aber das ist so 2007!?!

Ich habe "22 Bahnen" also als Buch empfunden, das auf den ersten Blick interessant, vielschichtig und thematisch tiefgründig erscheint, im Endeffekt aber Klischees reproduziert und der Hauptfigur ihre dringend benötigte Selbstermächtigung verwehrt. Dementsprechend unsicher bin ich mir nun, ob ich Band 2, der sich um Ida dreht, ebenfalls lesen werde. Falls Ihr ihn schon gelesen habt, sagt mir gerne bescheid, ob es sich aus Eurer Sicht lohnt! 

"Ich küsse ihn, und eine große Last fällt von mir ab, weil ich jetzt weiß, dass das kein Abschied ist, sondern eine Ankunft."

Das Urteil

Die nüchterne Sprache und die monotone Handlung spiegeln die innere Starre der Hauptfigur gut wider, doch die klischeehafte Darstellung sozialer Probleme und die fehlende emotionale Durchschlagskraft nehmen der Geschichte einiges an Wirkung. So konnte mich "22 Bahnen" leider nur mäßig überzeugen. 

*keine WERBUNG, gehört über Bookbeat*

Quelle Informationen: Amazon.de. Klapptexte und Zitate sind Eigentum des Verlags oder jeweiligen Rechtinhabers.

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