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Allgemeines
Titel: 22 Bahnen
Autor: Caroline Wahl
Verlag:
Dumont (18. April 2023)
Genre: Roman
ISBN: 9783832182786
Seitenzahl: 208 Seiten
Weitere Bände: Windstärke 17 (Band 2)
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Inhalt
Bewertung
"22 Bahnen" sowie sein Nachfolger "Windstärke 17" waren letztes Jahr wirklich ÜBERALL. Als Debüt eines aufsteigenden Sterns der deutschen Literatur von den einen, als bittersüßes Sommerbuch von den anderen gefeiert, war ich neugierig, was das kurze Büchlein bereithält und habe es in den letzten Tagen als Hörbuch gehört. Nach 6 Hörstunden kann ich mich dem Hype allerdings nicht anschließen...
Thematisch ist "22 Bahnen" ein grundsätzlich interessantes Buch über Co-Abhängigkeit, prekäre Verhältnissen und einer Jugend zwischen Aufbruch und Nostalgie, Verantwortung und Freiheit, Zukunft und Vergangenheit. Auf der Handlungsebene passiert allerdings gar nicht viel und vieles wiederholt sich: das tägliche Schwimmen, das Arbeiten im Supermarkt, die Gespräche mit Ida und Gedanken an den Sommer vor fünf Jahren, als Iwan starb. So ist die Handlung so träge wie die Sommerhitze, in der er spielt und nur aufgrund der Kürze des Buches kommen keine Längen auf. Dabei versteht es die Autorin gerade durch die Wiederholungen sehr gut, ein lebendiges Bild von den Lebensumständen, dem Alltag und der gefühlten Perspektivlosigkeit der Hauptfigur zu zeichnen.
Was allerdings irritiert und diese Illusion, im Leben der Figur aufzugehen, immer wieder gestört hat, sind die stellenweise klischeehaften und unrealistischen Darstellungen von Armut, Sucht und Depression. So werden nur Fast-Food und Gut-und-Günstig Produkte gegessen, auf den Suizidversuch der Mutter reagiert niemand, die Hausärztin verschreibt Antidepressiva ohne Fragen zu stellen und trotz offensichtlicher Misshandlungen ist das Jugendamt ein Fremdwort. Außerdem sind beide Töchter trotz Vernachlässigung offensichtlich hochbegabt und für eine 4-Zimmer-Wohnung, Schwimmbadbesuche, Markenprodukte und Alkohol scheint immer genug Geld dazu sein. Diese Aspekte haben es mir schwer gemacht, die Geschichte ganz ernst zu nehmen und mich wirklich darauf einzulassen.
Auch der Schreibstil hat definitiv seinen Reiz und erklärt für mich auch einen großen Teil des Erfolgs des Buches. Mit dem sehr nüchternen, fast telegrafischen Stil mit vielen Auflistungen und wie im Drehbuch aneinandergereihten Dialogen (die im Hörbuch leider ein wenig anstrengend sind) wirkt Caroline Wahls Schreibstil neu, frisch und passt hervorragend zur sparsamen Handlung und der verschlossenen Hauptfigur. Die einzige sprachliche Opulenz zeigt sich interessanterweise in der Beschreibung von Natur und Wetter, die eine bittersüße Melancholie in den Text bringen und eigene Erinnerungen an ziellose Sommer im Freibad zum Leben erwecken. Hingegen wirklich verzichten könnte ich auf die unnötig eingebauten rassistischen Bezeichnungen für Inuit und osteuropäische Menschen, die nichts zur Geschichte beitragen und in dem ansonsten sehr modernen Buch deplatziert wirken.
Passend zum Schreibstil bleibt auch die Hauptfigur Tilda emotional sehr distanziert. Auch wenn es vorrangig um ihre Emotionen geht, kommt beim Lesen nur sehr wenig an - bis eben die abgestumpfte Emotionslosigkeit, die sie sich als Antwort auf ihre schwierigen Lebensumstände antrainiert hat. Eben diese konnte ich aber nur schwer ertragen. Während dem Lesen hätte ich sie häufig gerne geschüttelt und gefragt, warum sie nichts fühlt, warum sie nichts sagt, warum sie nichts tut!!! Das ist zwar ein sehr interessanter Ansatz, für mich war aber vieles schwer greifbar und nachvollziehbar und dadurch erhält "22 Bahnen" deutlich weniger emotionale Wucht, als es hätte haben können. Denn von der Selbstermächtigung, die ich mir nach dem Klapptext und dem Einstieg erhofft hatte, ist nur wenig zu spüren. Tilda und Ida sind am Ende des Buches nur unwesentlich weiter als zu Beginn. Und was sich geändert hat, lässt sich eigentlich auch vor allem auf die Liebesgeschichte zurückführen, die Tilda einen Ausweg in Form eines Ritters in strahlender Rüstung anbietet. Sorry, aber das ist so 2007!?!
Ich habe "22 Bahnen" also als Buch empfunden, das auf den ersten Blick interessant, vielschichtig und thematisch tiefgründig erscheint, im Endeffekt aber Klischees reproduziert und der Hauptfigur ihre dringend benötigte Selbstermächtigung verwehrt. Dementsprechend unsicher bin ich mir nun, ob ich Band 2, der sich um Ida dreht, ebenfalls lesen werde. Falls Ihr ihn schon gelesen habt, sagt mir gerne bescheid, ob es sich aus Eurer Sicht lohnt!
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