Bewertung:
Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, dass das "Grisha"-Verse als großes Serien-Event produziert wird und somit die "Grisha"-Trilogie und die "Krähen"-Bestsellern auf die Leinwand vereint werden. Die Grisha-Trilogie um "Grisha - Goldene Flammen", "Grisha - Eisige Wellen", "Grisha - Lodernde Schwingen" sowie das weiterführende Spinn-Off "King of Scars - Thron aus Asche und Gold" habe ich schon im letzten Jahr gelesen und bin ganz verliebt in die slawische Fantasywelt gewesen, die Leigh Bardugo entworfen hat. Mit dem düsteren Gangster-Setting, den vielschichtig entwickelten Protagonisten und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen spielt "Das Lied der Krähen" jedoch in einer ganz anderen Liga und lässt die "Grisha"-Trilogie weit hinter sich zurück.
"Wenn jeder weiß, dass du ein Monster bist, brauchst du deine Zeit nicht damit zu verschwenden, monströse Dinge zu tun."
"Leigh Bardugo + Knaur Verlag" scheint eine vielversprechende Kombination zu sein - die Gestaltung ist mal wieder ein Traum. Das Hauptmotiv der großen Krähe, deren Federn wie schwarzes Pech eine graue Festung umfließen, die sich erst auf den zweiten Blick vom schiefergrauen Hintergrund abhebt, ist ganz dem Originalcover nachempfunden und setzt die düster-geheimnisvolle Grundstimmung der Geschichte auf ansprechende Weise um. Auch der Titel enthält das Krähenmotiv des Originaltitels "Six of Crows", weshalb hier aber ein Lied mit von Partie sein muss, ist mir auch nach längerem Nachdenken nicht ganz klar. Sehr überzeugend an der Gestaltung sind auch der schwarze Buchschnitt und die beiden wundervoll detailliert ausgestalteten Karten in den Leselaschen der broschierten Ausgabe. In der vorderen Lasche ist die schon aus der Trilogie bekannte Weltkarte des gesamten "Grisha-Verse" abgedruckt, während ganz hinten eine Karte des Eistribunals in Fjerda beim Orientieren hilft.
Sehr hilfreich ist auch die vorangestellte Übersicht der Grisha-Orden. Die grundlegenden Konzepte von Bardugos magischer Welt erschließen sich zwar zumeist aus dem Zusammenhang und dem Wortlaut, - So haben die Korporalki (Entherzer, Heiler, Bildner) Macht über den menschlichen Körper, Ätheralki sind Beschwörer, die durch gekonnte Manipulation ihre Umwelt kontrollieren können (Feuer = Inferni, Winde = Stürmer und Wasser =Fluter), und Materialki haben sich auf die Beeinflussung von Metallen (Durasten) oder Gifte (Alkemi) spezialisiert - dennoch wird der Überblick so manchem verwirrten Leser, der die vielen Begriffe noch nicht aus der Grisha-Trilogie kennt, dabei helfen, die Handlung besser zu verstehen. Zwar ist es für den Handlungsverlauf absolut nicht nötig, die anderen Bände gelesen zu haben, die im selben fiktiven Universum spielen, wie die Krähen-Dilogie, es hilft aber ungemein dabei, den Eindruck zu vervollständigen, wenn man schon mit Vorwissen an "Das Lied der Krähen" herangeht.
Wer die Reihe nicht gelesen hat, wird nämlich nur ein sehr sporadisches, unscharfes Bild der restlichen Grisha-Welt mitnehmen. Denn Leigh Bardugo hält sich hier nicht mit einem globalen Worldbuilding auf, sondern konzentriert sich ganz auf die für ihre Handlung wichtigen Spielorte. Zuerst entführt sie uns nach Ketterdam, eine vorindustrielle, niederländisch angehauchte Hafenstadt, die durch Börsenhandel, viele Reisende, zwielichtige Spielhallen und eine brutalen Gangkultur geprägt ist. Hier herrscht also eine ganz andere, weitaus düstere und dynamischere Stimmung vor als im winterlich, skandinavischen Fjerda oder dem stark russisch angehauchten, märchenhaften Ravka, welches wir in der Grisha-Trilogie kennenlernen konnten. Eines hat der Einstieg in "Das Lied der Krähen" aber mit der Trilogie gemeinsam: er ist genauso anspruchsvoll und überfordernd mit dem komplizierten, chaotischen Setting, den vielen neuen und fremden Namen und ganzen FÜNF Erzählperspektiven.
Schon der erste Satz ist legendär: „Joost hatte zwei Probleme: den Mond und seinen Schnauzer.“. Leigh Bardugo wirft uns ohne Vorwarnung mitten ins Geschehen und erklärt nur das aller nötigste, während sie die Fäden ihrer Handlung auswirft. Der für diese Geschichte so charakteristische Sog entwickelt sich aber leider erst mit der Zeit. Nicht etwa, weil der Anfang nicht spannend erzählt wäre - im Gegenteil: von einer spektakulären Befreiungsaktion, Arenakämpfen, mehreren Schießereien und Explosionen ist alles dabei -, sondern weil wir erst im Laufe der Zeit eine wirkliche Verbindung zu den Figuren aufbauen. Während unsere Protagonisten einen unmöglichen Coup planen und durch das Grisha-Verse reisen, wird nach und nach durch Einschübe und Rückblicke deren Geschichte erzählt. Mit jeder Seite, auf der wir mehr über sie erfahren, schließen wir sie mehr ins Herz und die rasante Handlung wird emotional mitreißender. Nachdem man sich also mal in die Geschichte eingefunden hat, kann man sie ohne eine einzige Länge in einem Rutsch weglesen und die 600 Seiten vergehen wie im Flug.
Ihre Figurencharakterisierungen sind wie immer durch zärtliches Feingefühl und unvorhersehbare Skrupellosigkeit geprägt. Ihre Figuren - der Anführer und Pläneschmieder Kaz, das katzenhafte Phantom Inej, der Scharfschütze Jesper, der gutbürgerliche Ausreißer Wylan, die Grisha-Entherzerin Nina und der Hexenjäger Matthias - sind so bunt, lebendig und ambivalent dargestellt, wie es fiktive Figuren auf 600 Seiten Umfang nur sein können. Dass sich eine Menge Rätsel und Wissenslücken um die Protagonisten ranken, hilft natürlich auch dabei, sie möglichst interessant zu präsentieren. Wie wurde Inej zum Phantom? Weshalb saß Matthias im Gefängnis? Welche Schuld trägt Nina mit sich herum? Wie haben die beiden sich kennengelernt? Weshalb spielt Jesper? Und vor allem: was will Kaz Brekker? Jener ist einer der undurchsichtigsten Personen, die mir je begegnet ist und mein geheimer Liebling der Reihe. Eine ordentliche Portion Geheimnis und Überraschungspotential bringen aber alle Beteiligten mit sich. Jeder der Krähen hat etwas zu verbergen, eigene Motive und natürlich tauchen auch noch ein paar alte und neue Gefühle auf, um die Dynamik der Gruppe zusätzlich zu verkomplizieren. Leigh Bardugo setzt hier mehr auf Konflikte und Anziehung, als auf große Liebesdramen, dennoch entspinnen sich die zarte Anfänge von gleich drei Lovestories.
Man mag vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte alle der sechs Krähen, aber sie sind so herrlich echt, authentisch und klischeefrei, dass man sie einfach feiern muss. Hier gibt es zur Abwechslung mal keine Prophezeiungen, keine auserwählten Special-Snowflakes, keine heiligen Ideale und keine große, antagonistische Weltuntergangsbedrohung. Was wir hier lesen sind einfach sechs gesetzlose Außenseiter auf dem Weg zu sehr viel Ruhm und Geld... oder in den Tod. Der Beiname der Reihe "Glory or Grave" wird also zum Programm. Und da wären wir bei dem zweiten Punkt, der unvorhersehbaren Skrupellosigkeit, angelangt. Bis zum Ende kann hier jederzeit absolut alles passieren. Nicht nur dass die Autorin ihre Leser durch Erzählkniffe und spannende Wendungen auf falsche Fährten lockt, mit der Komplexität der Pläne, dem Aufbau und Detailreichtum der Welt immer wieder begeistert und verblüfft, sie schreibt auch taff und unverfroren genug, dass man ihr ein spontaner Charaktertod ohne Probleme zutrauen würde. Ich liebe Gangster-Geschichten, ich liebe spektakuläre Coups und ich liebe es, wenn komplizierte Pläne funktionieren - doch noch mehr liebe ich es, wenn Situationen so entgleisen, dass alles auf der Kippe steht und die Geschichte sich plötzlich in jede erdenkliche Richtung bewegen könnte. Und genau solche Momente gibt es gerade im spektakulären letzten Drittel im Eistribunal eine ganze Menge.
Durch die besondere Erzählweise ist "Das Lied der Krähen" ein sehr intensives und forderndes Leseerlebnis, das eine gewisse Bereitschaft, den Kopf anzustrengen und sich auf die Welt, Charaktere und miteinander verflochtenen Handlungsstränge einzulassen, verlangt. Es schwingen aber auch noch andere Subtöne mit. Neben den feministischen Zügen, die sich immer wieder abzeichnen, ist auch die Diversität der Protagonisten positiv zu vermerken. Ob bi-, pan-, hetero-, oder homosexuell spielt ebenso wie die Hautfarbe und die Körperstatur keine Rolle und wird nur nebenbei erwähnt - ebenso wie es im echten Leben auch sein sollte: keine große Sache. Sie werden genannt, akzeptiert und vergessen, herrlich selbstverständlich. Auch unterschiedliche Religionen und Wertvorstellungen tauchen hier auf und machen das diverse Bild bunter, ohne dass es die Autorin übertrieben hat oder heraushängen lässt, wie in manch anderen Jugendbüchern, die sich der Diversität verschrieben haben, der Fall ist. So fügen sich auch die Protagonisten gut in die wundervolle, eigensinnige, kunterbunte, authentische, magische Welt - das Grisha-Verse - ein.
Fazit:
"Das Lied der Krähen" ist dank des düsteren Gangster-Setting, der vielschichtig entwickelten, ambivalenten Figuren, der fordernden, komplexen Handlung und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen deutlich erwachsener und ausgereifter als die "Grischa-Trilogie" und konnte mich nach leichten Anfangsschwierigkeiten vollkommen überzeugen. Brutal, unvorhersehbar, originell und intensiv - ein erstes Highlight des noch jungen Jahres!
Danke für die tolle Rezension. Jetzt weiß ich gar nicht, ob ich erst die Grischa-Trilogie lesen soll oder gleich mit den Krähen anfange. Du hast mich mit deinem Lob auf den ausgeklügelten Schreibstil der Autorin wirklich überzeugt!
AntwortenLöschenLG, Tala
Fürs Verständnis würde ich erst die Grischa Trilogie lesen ;)
LöschenEs hängt ja doch auch teilweise zusammen von den Figuren, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.
Hey Tala,
Löschendas freut mich natürlich total! 😊 Ich kann mich der Empfehlung von Aleshanee nur anschließen - ich würde an deiner Stelle auch zuerst die Grischa-Trilogie lesen. Zwar sind die Geschichten vollkommen unabhängig voneinander und es überschneiden sich auch keine Figuren (bis auf die Nennung von bekannten Persönlichkeiten, die in beiden Reihen eine Rolle spielen), wie ich aber in der Rezension schon geschrieben habe, hat man für das Grishaverse und die Gegebenheiten dort einfach ein besseres Verständnis, wenn man die Grischa-Trilogie gelesen hat. Das Worldbuilding ist in "Das Lied der Krähen" schon stark auf die Handlungsorte beschränkt und der Einstieg wird einem erleichtert, wenn man mit den Rahmenbedingungen schon vertraut ist. Dann macht das Lesen einfach mehr Spaß!
Außerdem ist auch die Grische-Reihe total empfehlenswert, zwar noch ein bisschen unausgereifter als die Krähen-Dilogie aber definitiv sehr lesenswert für Fantasy-Fans!
Liebe Grüße
Sophia
Schönen guten Morgen!
AntwortenLöschenWow, das ist mal wieder ausführliche Rezension! Wie dir da nur so viel einfällt :D Ich liebe dieses Buch und das war "damals" auch mein Jahreshighlight. Ich fand das Setting und die Charaktere absolut genial!
Du hast alles super beschrieben ohne zuviel zu verraten. Ich hoffe, der Folgeband gefällt dir auch so gut!
Liebste Grüße, Aleshanee
Hey Aleshanee,
Löschenich weiß es auch nicht, aber bei Büchern, die mich begeistern, fließt es einfach aus mir heraus und ich kann mich einfach nicht kurzfassen 😂😁. Jaa, ich habe mich auch so sehr in das Setting und die Figuren verliebt - den zweiten Band habe ich schon hier, der wird in den nächsten Tagen angefangen.
Liebe Grüße
Sophia
Hallo Sophia,
AntwortenLöschenich habe das Buch als Hörbuch begonnen, habe es dann aber abgebrochen. Seither überlege ich, ob ich es nicht in gedruckter Form lesen soll oder nicht. Solch eine Rezension macht natürlich Hoffnung, dass mir die gedruckte Version deutlich besser gefallen wird als das Hörbuch.
Viele Grüße
Frank
Hey Frank,
Löschenich weiß nicht, wie weit du damals gekommen bist, aber wie ich ja schon sagte, ist der Einstieg in die Geschichte recht kompliziert und verwirrend. Ich habe auch trotz dass ich die Grischa-Trilogie vorher gelesen hatte, gute 100 Seiten gebraucht, bis ich richtig in der Geschichte angekommen war und bis diese mich auch gepackt hatte. Deshalb habe ich auch bei meiner Bewertung einen halben Stern abgezogen. Das ging auch glaube ich vielen LeserInnen oder HörerInnen so wie dir und mir. Da die Geschichte dann aber sehr schnell sehr grandios wird, kann ich dir wirklich nur empfehlen, ihr nochmal eine Chance zu geben! Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass ich bei komplexeren Geschichten aus verschiedenen Perspektiven (hier gibt es fünf) länger brauche, um in die Geschichte zu kommen, wenn ich sie als Hörbuch höre. Vielleicht ist es also tatsächlich ratsam, es nochmal mit der gedruckten Version zu versuchen?
Liebe Grüße
Sophia
Das ist bei Hörbüchern immer schwer zu sagen, wieviele Seiten die Prozente ausgemacht haben. Nachgucken kann ich nicht mehr, weil ich das Hörbuch zurückgegeben habe. Als eBook habe ich es schon hier liegen - so als kleine Motivation. Bisher haben sich nur immer wieder andere Titel dazwischengeschoben ... sowas kennst Du sicherlich ;)
LöschenJa klar, das kenne ich nur zu gut. Ich habe auch einige Bücher schon über ein halbes Jahr auf meiner Leseliste und komme einfach partout nicht dazu, sie zu lesen, da sich immer wieder andere vordrängeln🤷♂️. Falls du aber doch noch dazu kommst, "Das Lied der Krähen" zu lesen, wünsche ich dir auf jeden Fall sehr viel Spaß damit und bin gespannt, ob es dir beim zweiten Versuch besser zusagt!
LöschenHallo Sophia,
AntwortenLöschenirgendwie habe ich jetzt erst deinen Blog entdeckt, bin aber direkt über deine Rezension zu diesem Buch gestolpert, dass ich Anfang letzten Jahres gelesen habe und das direkt zu einem meiner absoluten Lieblingsbüchern - deiner Rezension kann ich mich daher weitgehend nur anschließen.
Dazu, warum Wylan keine Erzählperspektive hat, habe ich übrigens eine Vermutung, die allerdings vermutlich das letzte Kapitel spoilern würde. :x
Ich gestehe, dass ich damals etwa hundert Seiten gebraucht habe, um reinzukommen, auch weil die Handlung meiner Meinung nach erst dann wirklich ins Rollen kommt, aber ab dem Moment war ich einfach nur verliebt, vor allem in die meiner Meinung nach genialen Dialoge und die, wie du ja auch feststellst, so unglaulich tiefgründigen und gelungen geschaffenen Charaktere. (*hat jetzt Lust auf einen Re-Read*)
Liebe Grüße
Dana
Hey Dana,
Löschenja, das letzte Kapitel offenbart ja einige Geheimnisse Wylans, da aber auch die anderen Figuren die ganze Zeit über ziemlich viel verbergen, denke ich nicht, dass es schwierig gewesen wäre, aus seiner Sicht zu erzählen und den Leser trotzdem am Ende zu überraschen...
Aber wahrscheinlich hast du recht und das ist der Grund, im zweiten Teil bekommt er ja dann eine eigene Erzählperspektive 😋.
Bei mir war es am Anfang etwas weniger als hundert Seiten, aber ich habe auch eine Weile gebraucht, um ganz in der Geschichte anzukommen. Ich freue mich jetzt erstmal auf den zweiten Band!
Liebe Grüße
Sophia