Freitag, 8. Juli 2016

Schachnovelle




Allgemeines:

Titel: Schachnovelle
Autor: Stefan Zweig
Verlag: FISCHER Taschenbuch (1987)
Genre: Drama
ISBN: 978-3596215225
Seitenzahl: 112 Seiten
Preis: 4,95€ (Taschenbuch)
5,95€ (gebundene Ausgabe)
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Inhalt:

"Das Unwahrscheinliche hatte sich ereignet, der Weltmeister, der Champion zahlloser Turniere hatte die Fahne gestrichen vor einem Unbekannten, einem Manne, der zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre kein Schachbrett angerührt. Unser Freund, der Anonymus, der Ignotus, hatte den stärksten Schachspieler der Erde in offenem Kampfe besiegt!"

Das Erstaunen ist groß, als der unscheinbare Dr. B., österreichischer Emigrant auf einem Passagierdampfer von New York nach Buenos Aires, eher zufällig gegen den amtierenden Schachweltmeister Mirko Czentovic antritt und seinen mechanisch routinierten Gegner mit verspielter Leichtigkeit besiegt. Doch das Schachspiel fördert Erinnerungen an den Terror seiner Inhaftierung im Nationalsozialismus zutage und reißt eine seelische Wunde wieder auf, die erneut Dr. B.s geistige Gesundheit bedroht.


Bewertung:

"Man ging auf und ab, und mit einem gingen die Gedanken auf und ab, auf und ab, immer wieder. Aber selbst Gedanken, so substanzlos sie schienen, brauchen einen Stützpunkt, sonst beginnen sie zu rotieren und sinnlos um sich selbst zu kreisen; auch sie ertragen nicht das Nichts. Man wartet auf etwas, von morgens bis abends, und es geschah nichts. Man wartete wieder und wieder. Es geschah nichts. Man wartete, wartete, wartete, man dachte, man dachte, man dachte, bis einem die Schläfen schmerzten. Nichts geschah. Man blieb allein. Allein! ALLEIN!"


Wir haben dieses Buch mit der Klasse im Deutschunterricht gelesen, ich war also eher negativ eingestellt, als ich begonnen habe. Seltsamerweise hat mich die Geschichte nach etwa zehn Seiten aber total gepackt. Das Alter merkt man dem Klassiker zwar an, es hat mich aber nicht in meinem Lesefluss gestört. Ich war von der Story total gefesselt und habe in gut einer Stunde die wenigen fünfzig Seiten durchgelesen.

Es ist schwierig, etwas zum Cover zu sagen, da es sehr viele verschiedenen Ausgaben davon gibt und ich selber zwei davon besitze. Der Blauton ist sehr ansprechend und das die beiden Figuren, Schwarz und Weiß, sich gegenüberstehen und recht menschenähnliche Züge haben, passt auch perfekt zu der geteilten Persönlichkeit von Dr. B.. Die unvollständigen Schachfelder vor ihnen assoziiert man mit den noch nicht zu Ende gedachten Spielzügen und auch mit dem offenen Ende, da man nicht sieht, was noch kommt. Die Novelle lässt offen, ob Dr. B. seine ganz persönliche Art von Folter mittel- und langfristig verkraften wird.

Was genau, ich an dieser Novelle so faszinieren fand, kann ich nicht wirklich sagen. Zum einen ist die Erzählweise von Stefan Zweig unglaublich interessant. Es gibt einen Ich-Erzähler, der aber eine unglaublich kleine Rolle spielt, man erfährt nicht über ihn, nicht einmal seinen Namen. Ich fällt nur die Aufgabe zu, die Geschichte zu berichten. Den Großteil des Buches unterhält er sich mit Dr. B., der ihm seine Lebensgeschichte ausbreitet, wodurch eher dieser wie der Hauptcharakter wirkt. Eine Geschichte in einer Geschichte also quasi, das ist hervorragend gemacht.

Zum anderen ist es natürlich das Thema selbst, das einem unter die Haut geht. Natürlich geht es rein von der Handlung her erstmal um Schach, um die Faszination und die ambivalente Anschauung zu diesem Spiel - ist es System, ist es Schulung, Instinkt oder Mathematik? Auf besondere Art und Weise beschreibt Stefan Zweig, wie zwei sehr spezielle Menschen auf ganz unterschiedlichem Weg zum Schachspielen kommen. Beide erlernen dieses Spiel aus einer eher zufälligen Situation und treiben es fast bis zur Perfektion. Wie leidenschaftlich von diesem Spiel geredet wird, weckt in mir irgendwie den Wunsch es doch noch mal damit zu versuchen, nachdem ich es als "Langweiligen-Zeitvertreib-für-verzweifelte-Omis-und-solche-,die-nichts-anderes-zu-tun-haben" abgestempelt hatte. Aber keine Angst! Wenn man absolut rein gar nichts von Schach versteht -so wie ich- kann man das Buch trotzdem gut verstehen und lieben!

Wenn man den Inhalt des ganzen Buches aber in eine Hand nimmt und ordentlich durchschüttelt, das alle Metaphern und ausschmückende Worte wegfallen, bleibt nur eines Übrig: ein Vorwurf an die unglaublichen Brutalität der Nazis. Die Metapher des strategischen Schachspiels wird hier verwendet, um die brutal berechnende Art der Nazis zu abstrahieren. Jeder Zug im politischen Irrsinn jener Zeit dient nur dem Ziel, jenem "Endziel" der alleinigen Macht, allein wenn ich daran denke, wird mir schlecht!  Ebenso hat das Schachspiel ein Endziel, das "Schachmatt" des Gegners. In ebenso zermürbender Gewalt wie ein überlegener Schachmeister einen begabten Amateur Zug um Zug um den Siegeswillen bringt, bringen die Nazis Dr. B. langsam und geschickt um Verstand und Wille. Dr. B. wurde von ihnen zu einer mehrmonatigen Isolationshaft gezwungen und ist darüber fast wahnsinnig geworden.

Wie ein Schachspieler angestrengt Zug um Zug nach seiner Chance sucht, Zug um Zug seine Unterlegenheit klar sieht, sucht auch Dr. B. nach einem Ausweg und versucht zu gewinnen. Er entdeckt in all seinem Elend ein Buch über Schachstrategien und bringt sich selber das Schachspielen bei. Ebenso aber wie der begabte Amateur sieht er sich hilflos gegenüber, sieht sich Zug um Zug kleiner werden in der Mühle der unbezwinglichen Übermacht. Als ihm die gewohnten Züge zu langweilig werden, sieht er sich gezwungen gegen sich selbst zu spielen. Er ist gezwungen seine Persönlichkeit zu teilen, ein "Ich-Weiß" und ein "Ich-Schwarz" und wird darüber langsam wahnsinnig. Der Gegner, die Nazis, verstehen das Spiel besser als er und treiben ihn schlussendlich in den Wahnsinn.

 Man kann sich gar nicht vorstellen, wie groß diese Strafe für einen Menschen ist, dem "nichts weiter" angetan wird, als ihn vollkommen von der Außenwelt zu isolieren. Darum geht es und auch darum, was der menschliche Geist dann für "Kopfstände" macht und wie sehr solch ein Erlebnis das ganze Leben eines Menschen verändert, ja ruiniert!


"Niemand kann schildern, kann ermessen, kann veranschaulichen, nicht einem anderen, nicht sich selbst, wie lange eine Zeit im Raumlosen, im Zeitlosen währt, und keinem kann man erklären, wie es einen zerfrisst und zerstört, dieses Nichts und Nichts und Nichts um einen, dies immer nur Tisch und Bett und Waschschüssel und Tapete, und immer nur das Schweigen, immer derselbe Wärter, der, ohne einen anzusehen, das Essen hereinschiebt, immer dieselben Gedanken, die im Nichts um das eine kreisen, bis man irre wird!"


Wie Dr. B. es dem Ich - Erzähler erzählt, so voller Verzweiflung, kann man sich das gar nicht vorstellen, so authentisch und realistisch wurde das rüber gebracht. Unbehaglich sitzt man da und verfolgt mit, wie sich sein Zeitvertreib zu einer Besessenheit verändert.


"Aus der Spielfreude war eine Spiellust geworden, aus der Spiellust ein Spielzwang, eine Manie, eine frenetische Wut, die nicht nur meine wachen Stunden, sondern allmählich auch meinen Schlaf durchdrang!"


Trotz des geringen Umfangs an Seiten, hat man fast das Gefühl neben dem mysteriösen Dr. B. zu sitzen und seiner Geschichte zu lauschen. Und so komme ich direkt zum nächsten Punkt: Der Länge!
 Die Geschichte hat keinen Durchhänger, der Autor hat an keiner Stelle versucht, Zeit und Seiten zu schinden oder den Leser mit irgendwelchen unnötigen Hintergrundinformationen zu langweilen um aus dieser kleinen Novelle noch ein Buch zu mogeln!
Selten habe ich einen solchen geraden und verständlichen und trotzdem so dichten und vielschichtigen Schreibstil gesehen. Ich hatte trockenen Lesestoff erwartet, bei dessen Entschlüsselung ich mir die Zähne ausbeißen würde, doch bekommen habe ich ein gut ausgearbeiteter Schreibstil mit vielen genialen Metaphern, die wirklich jeder versteht und nicht in den Text hineingeprügelt wurden, sondern sich natürlich und kunstvoll in den Gesamtzusammenhang fügen.


"Man lebte wie ein Taucher unter der Glasglocke des Schweigens und wie ein Taucher sogar, der schon ahnt, dass das Seil nach der Außenwelt abgerissen ist und er nie zurückgeholt werden wird aus der lautlosen Tiefe. Es gab nichts zu tun, nichts zu hören, nichts zu sehen, überall und ununterbrochen war um einen das Nichts, die völlige raumlose und zeitlose Leere."


Außerdem fand ich die Protagonisten wirklich interessant. Es gibt zwar nur vier Personen, die wirklich eine Rolle spielen, aber diese werden sehr genau wiedergegeben. Psychologisch wird ins kleinste Detail der Seelenzustand verdeutlicht, ohne dabei trocken oder langweilig zu wirken. Es gibt außer dem Ich-Erzähler, der kaum näher charakterisiert wird, noch den bulligen schottischen Tiefbauingenieur McConnor, der sehr von sich selbst überzeugt ist und mit ehrgeiziger Verbissenheit immer wieder eine Revanche fordert, obwohl er nicht gewinnen kann, natürlich den Weltschachmeister Mirko Czentovic und den rätselhaften Dr. B.. Dr. B. ist natürlich der große Geheimnisvolle in der Novelle und genau das Gegenteil von dem kalten Czentovic. Der Schachweltmeister Czentovic wirkt seelisch abgestumpft und primitiv und überzeugt nur durch bloßes maschinelles Spielen. Er wird als geldgierig, überheblich und beschränkt beschrieben.


"Ich hatte in meinem Leben noch nie Gelegenheit gehabt, die persönliche Bekanntschaft eines Schachmeisters zu machen, und je mehr ich mich jetzt bemühte, mir einen solchen Typus zu personifizieren, umso unvorstellbarer schien mir eine Gehirntätigkeit, die ein ganzes Leben lang ausschließlich um einen Raum von vierundsechzig schwarzen und weißen Feldern rotiert!"


Ausnahmsweise werde ich jetzt noch auf den Autor eingehen. Stefan Zweig war jüdischer Herkunft und wächst in Wien auf. Im Alter von 60 Jahren, nimmt er sich das Leben.
Er, ein überzeugter Pazifist, wurde durch die destruktive Art dieser deutschen Zeit und den  Schreckenstaten der Nationalsozialisten besonders getroffen. Insbesondere sein Traum vom vereinten Europa wurde durch die abfällige Politik dieses immer noch nachlebenden Deutschland vergiftet.
Die "Schachnovelle" war sein letztes Werk bevor er 1942 in Brasilien freiwillig aus dem Leben schied, daher eine "Quittung" an das Deutschland, das sein Leben so stark beeinflusst hat, so stark in die Melancholie getrieben hat.


"Bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele wie das Nichts"

 

Fazit:

Dieses Buch ist sehr nervenaufreibend und unheimlich spannend. Der schachspielende Leser beginnt automatisch mit zu fiebern. Der nicht spielende Leser entwickelt zwangsweise den Wunsch, dieses Spiel zu erlernen, um später festzustellen, wie treffend der Autor die Gefühle seiner Romanfiguren beschrieben hat. Die Novelle vereint eine tolle Erzählkunst, authentische Charakteren, eine super hinterlegte Botschaft!

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